nachruf

10. Dezember 2021

Oscarina Ein Nachruf auf Lina Wertmüller

Von Fabian Tietke

Dreharbeiten zu I basilischi (1963)

© 22 Dicembre-Galatea

 

Als es im Oktober 2019 endlich soweit war und Lina Wertmüller den Academy Award für ihr Lebenswerk erhielt, stand da eine kleine Frau hinter dem Rednerpult und beklagte, dass es ja eigentlich eine Oscarina sein müsste, die sie bekommt und nicht so eine machohafte Statuette. Lina Wertmüllers Warten auf diese Auszeichnung hatte mehr als 40 Jahre gedauert. 1976 war sie mit Pasqualino settebellezze die erste Frau, die für den Regie-Preis nominiert worden war. In der Nacht auf Donnerstag ist Lina Wertmüller mit 93 Jahren in Rom gestorben.

Wertmüllers Anfänge im Film sind untrennbar mit ihrer Regieassistenz bei Federico Fellinis La dolce vita (1960) und Otto e mezzo (1963) verbunden. Kein Interview, in dem Lina Wertmüller die Begegnung mit Fellini nicht als Initialmoment beschriebe. Vor dieser Begegnung studierte sie an der Theaterakademie in Rom, arbeitete als Regieassistentin und verfasste mit dem Duo Garinei und Giovannini Musikrevuen. Der allererste Film, den Lina Wertmüller dreht, dokumentiert die Dreharbeiten von Otto e mezzo.

Wenig später dreht Wertmüller ihren ersten Spielfilm I basilischi (1963). Die Anklänge an das italienische Kino der 1950er Jahre sind klar erkennbar; der ironische Offkommentar zu Beginn, die Lakonie erzeugt Ähnlichkeit zu den Filmen von Pietro Germi und Luigi Zampa. Dennoch klingt I basilischi vom ersten Moment an anders, weiblicher. Der Film mag von drei jungen Männern in der süditalienischen Provinz, ihren Träumen und scheiternden Ambitionen handeln, doch die erste Stimme, die wir hören, ist die einer jungen Frau, die uns erklärt, wie das Leben im Dorf funktioniert. Sie wird auch das letzte Wort haben, nachdem sich die Träume der Männer im Gerede verloren haben. Schon in I basilischi macht Wertmüller klar, dass es weiblicher Figuren bedarf, um ein patriarchales System verstehbar zu machen.

Dieser Ansatz lässt sich auch in dem Episodenfilm Questa volta parliamo di uomini beobachten. Der Film ist eine Intervention in das Kino seiner Zeit – was der Vergnüglichkeit keinen Abbruch tut. Während ringsherum die Episodenfilme sprießen und die Geschlechterstereotypen vor sich hin sedieren, nutzt Wertmüller die episodische Form für ein kleines Experiment: vier Grotesken über vier Filmformen. Der Film führt ein weiteres Element ein, das die Arbeiten Wertmüllers über all die Jahre begleiten wird: die Vorliebe für Schauspieler, die Theatererfahrung haben.

In den nächsten Jahren folgt ein Ausflug in den populären Film: In der Mini-Serie Il giornalino di Gian Burrasca arbeitet Lina Wertmüller das erste Mal mit dem Pop-Star Rita Pavone zusammen. Die reduzierte kammerspielartige Fernsehkulisse hält die Beschränkungen der Produktion fortwährend im Bild präsent. Die trotz aller Konvention vorhandenen Qualitäten liegen denn auch eher in der Schauspielriege, mit der Wertmüller Rita Pavone umgibt. Zudem bekennt Wertmüller im Rückblick: «mir haben Filmmusicals immer gefallen». Es folgen zwei weitere Filme mit Pavone (Rita la zanzara / Rita, die Mücke, 1966 und Non stuzzicate la zanzara / Reizt die Mücke nicht, 1967), die Wertmüller im Rückblick allerdings nur als marginalen Teil ihrer Filmografie verstanden wissen wollte. Im Jahr darauf, 1968, entsteht Il mio corpo per un poker, der einzige Italowestern bei dem eine Frau an der Regie beteiligt war (Wertmüller dreht den Film gemeinsam mit Piero Cristofani, der außer diesem Film keine eigenen Regiearbeiten realisiert hat, beide erscheinen unter Pseudonym).

Nach dem viel versprechenden Debüt und einer soliden Fortsetzung schien die Kreativkarriere von Lina Wertmüller Ende der 1960er Jahre ins Stocken geraten zu sein. Doch die folgenden fünf Filme werden Wertmüllers Namen in der italienischen und europäischen Filmgeschichte verankern: 1972 läuft Mimì metallurgico ferito nell’onore auf den Filmfestspielen in Cannes, wird jedoch durchwachsen aufgenommen. In Italien ist der Film ein Kassenerfolg und begründet mit dem Schauspielpaar Mariangela Melato & Giancarlo Giannini ein Erfolgsteam. Mimi trifft den Geist der Zeit: In der Erzählung eines linken Arbeiters, der voller Illusionen in den Norden übersiedelt, dort scheitert und resigniert wieder zurückkehrt, werden eine ganze Reihe aktueller Themen aufgegriffen. Hat man während der Titelsequenz vielleicht noch Pasolini-Anklänge im Kopf, wird schnell klar, dass es um etwas gänzlich anderes geht. Wertmüller nutzt ihre redseligen, bisweilen geschwätzigen Figuren für ein Spektakel, das Politik, Unterhaltung und Kunst fröhlich durcheinander wirbelt.

 

Film d'amore e d'anarchia (1973)

© Euro International Films

 

Auch Wertmüllers nächster Film Film d’amore e d’anarchia feiert in Cannes Premiere – Hauptdarsteller Giancarlo Giannini wurde als bester Hauptdarsteller ausgezeichnet. Ein Bauer, der unter die Anarchisten gerät und Mussolini ermorden will, aber das eigene Attentat verschläft. Film d’amore e d’anarchia ist, abgesehen von  Il giornalino di Gian Burrasca, Wertmüllers erster Ausflug in die Vergangenheit. Dass Tunin, der Bauer, ausgerechnet in einem römischen Edelbordell Unterschlupf findet, nutzt Wertmüller, um den italienischen Faschismus als großsprecherisch, mackriges Hans-Wurst-Theater bloßzustellen.

Allerspätestens mit dem nächsten Film Tutto a posto e niente in ordine (1974) wird deutlich, was die Besonderheit Wertmüllers im italienischen Kino jener Jahre ausmacht: Die Filme sind durchweg politisch anschlussfähig an die Debatten ihrer Entstehungszeit, ermüden die Zuschauer:innen jedoch – anders als so viele Filme jener Jahre – nicht mit ihrer Lehrstückhaftigkeit. Tutto a posto zeigt eine zusammengewürfelte Gruppe von inneritalienischen Emigranten, die sich in Mailand durchschlagen. Zu dem Erfolg des Films hat die Tonspur von Piero Piccioni nicht unwesentlich beigetragen, die anschließend als Schallplatte erschien und seither wiederholt nachgepresst wurde.

 

Lina Wertmüller am Set von Travolti da un insolito destino nell'azzurro mare d'agosto (1974)

© Kino Lorber

 

In Travolti da un insolito destino nell’azzurro mare d’agosto (1974) verschlägt es Mariangela Melato und Giancarlo Giannini auf eine einsame Insel. Sie ist eine reiche Unternehmerin, er Seemann auf ihrer Yacht. Ein Jahr später spielt Giannini den skrupellosen Überlebenskünstler Pasqualino Settebellezze, der nach einem Mord und einer Vergewaltigung aus einer Psychatrie entkommt, indem er sich freiwillig für den Zweiten Weltkrieg meldet. Er flieht erneut und landet in einem deutschen Konzentrationslager. Die Darstellung des Lagers und des Lebens und Überlebens im Lager sorgten bei Erscheinen des Films für rege Diskussionen.

Ab Mitte der 1980er Jahre werden die Filme Wertmüllers noch einmal quirliger. Der Einsatz der Mittel balanciert bisweilen auf einem schmalen Grat zur Manieriertheit, aber in den Fällen, in denen die Balance gelingt, wird man als Zuschauer:in mit einigen wunderbar verwirrenden Filmen belohnt. Zugleich werden die Filme ‹italienischer›: Waren die Bezüge zu Debatten der Zeit in den Filmen der 1970er Jahre ‹weltweit› lesbar, wurden die Referenzen in den 1980er Jahren kleinteiliger, lokaler und präziser. So dienen die im Gerichtsaal aufgebauten Käfige in den Mafia-Prozesse in Un complicato intrigo di donne, vicoli e delitti (internationaler Titel Camorra) als Vorlage für Käfige, in denen die Frauen Neapels zusammengepfercht sind, als sie dem Drogenhandel den Krieg ansagen. Der Film wurde koproduziert von Menahem Golans und Yoram Globus’ Cannon Film.

 

Un complicato intrigo di donne, vicoli e delitti (1985)

 

Mitte der 1990er Jahre nimmt Wertmüller in Metalmeccanico e parrucchiera in un turbine di sesso e di politica (Automechaniker und Frisörin in einem Wirbel von Sex und Politik) den Berlusconismus und die Krise der italienischen Politik aufs Korn – produziert ausgerechnet von Medusa-Film, der Produktionstochter von Berlusconis Mediaset Medienkonglomerat. Wahlabend 1994: maskulinistische Streithähne aller Fraktionen lassen sich an einem Küchentisch von Frauen bedienen. Als die Hochrechnung kommt, starren alle fassungslos auf den Bildschirm und sind sie sich einig: «Paese di merda» (Scheißland). Am Rande einer Feier von Berlusconianhängern treffen die Frisörin (und Anhängerin der kleinbürgerlich-rassistischen Lega Rosella) und der kommunistische Automechaniker Tunin aufeinander. Eine Erektion verrät von Anfang an die fraktionsübergreifende sexuelle Attraktion, doch Rosella will nur Sex mit Tunin haben, wenn dieser in die Lega eintritt. Von den vielen Filmen über die Berlusconi-Zeit erweist sich Wertmüllers Metalmeccanico e parrucchiera in un turbine di sesso e di politica im Rückblick als einer der treffendsten. In der Mischung aus Dauergeilheit, Kleinbürgerlichkeit und Provinzialität bringen die Figuren eine Reihe von prägenden Zügen der Zeit sehr genau auf den Punkt. Nicht nur durch den Namen seines Protagonisten drängen sich Parallelen zu Amore e d'anarchia auf, die zur politischen Schlagkraft erheblich beitragen.

In Lina Wertmüller verliert das europäische Kino eine große Regisseurin des politisch-erotischen Films. Das Naserümpfen, das viele ihrer Arbeiten ab den 1980er Jahren bei der Filmkritik vor allem außerhalb Italiens hervorriefen, verweist genau auf jene Qualitäten, die die Filme im Rückblick wiederentdeckenswert machen. Wertmüllers Abstand zum saturierten Arthousekino schlägt sich in der unablässigen Lust nieder, noch die trivialsten Dinge überdreht zu inszenieren. Sinnlichkeit und Erotik sind in diesen Filmen untrennbar von ihrem politischen Gehalt. Lina Wertmüllers Tod ist ein Verlust. Ihre Filme verweisen auf eine Leerstelle, die nicht nur eine künstlerische, sondern auch eine politische ist. Mögen ihre Filme auch nach ihrem Tod fortfahren, die Verhältnisse durcheinander zu wirbeln.

 

Dieser Text basiert auf einem Katalogtext, entstanden zur Hommage an Lina Wertmüller auf dem Festival Verso Sud im Sommer diesen Jahres. Die Hommage war eine Kooperation zwischen Verso Sud, dem DFF und dem Projekt Comizi tra donne der Kinothek Asta Nielsen e.V.