dokumentarfilm

15. November 2009

Ein altes Versprechen Heute beginnt die Dardenne-Retrospektive im Arsenal in Berlin

Von Bert Rebhandl

Wie man von einem Film erfasst werden kann: gleich zu Beginn ein Kino der Körper, enge Kadrage, die Handkamera folgt dem Routine-Rundgang eines Mannes, der illegal eingewanderte Mieter in Zuhältermanier kontrolliert. Er reißt die Türen auf, die schmalen Unterkünfte geben ein Bild der Erbärmlichkeit, die darin aufgeschreckten Menschen sind dem respektlosen Blick und der Willkür ausgeliefert. Der Mann, begleitet von einem wendigen Halbwüchsigen, holt aus jeder Situation das Äußerste heraus: Von dem jungen Nordafrikaner, den er in flagranti mit einem Freier entdeckt, verlangt er eine zusätzliche Abgabe, ebenso von den türkischen Mietern, die ihre Freund beherbergen. Diejenigen, die sich über den desolaten Zustand der windigen Behausungen und über die mangelnde Kanalisation beklagen, verspricht er Abhilfe, ohne sich auf lange Diskussionen einzulassen.
Der Effekt des fiktionalen Blicks auf ein Dispositiv der Kontrolle ist umso stärker, als dieses in einem an das Dokumentarische angelehnten Modus vorgeführt wird: Als «unvermittelte» Zeugen von Ausbeutung und Elend inmitten einer westeuropäischen Stadt werden die Zuschauer hier zunächst direkt adressiert.

So beschrieb Christa Blümlinger 1997 in der Zeitschrift METEOR die Wirkung des Films La Promesse von Luc und Jean-Pierre Dardenne. Zwei neue Auteurs tauchten damals im Weltkino auf, ihre Bedeutung war unmittelbar zu erkennen, von Rosetta (1999) bis Le Silence de Lorna (2008) haben sie seither ihr Werk weitergeschrieben. In all diesen Jahren wusste man zwar von den frühen, dokumentarischen Filmen der Dardennes, zu sehen bekam man sie aber nie.

An diesem Sonntag eröffnet nun das Arsenal in Berlin unter dem Titel REALISMUS REFLEKTIEREN eine Retrospektive der Filme von Luc und Jean-Pierre Dardenne, die zusammenbringt, was die Auswertungslogik der Arthauswelt getrennt halten muss: Wie sich die frühen Arbeiten zu den späteren Fiktionen verhalten, wie sich die Erzählung aus der Beobachtung heraus entwickelt, ob sich Bilder des latent Metaphysischen schon früh finden oder ob die Dardennes vielleicht tatsächlich nur leibliche Projektionsflächen für unser überschießendes kulturelles Wissen schaffen – zu all diesen Fragen gibt es im Arsenal im November das Grundlagenmaterial.

Eröffnet wird am Sonntag, 16. November, mit La Promesse, davor läuft der Dokumentarfilm LORSQUE LE BATEAU DE LÉON M. DESCENDIT LA MEUSE POUR LA PREMIÈRE FOIS (1979), eine Bootsfahrt entlang der Monumente einer Arbeitswelt, die einst maßgeblich zur Schaffung des europäischen Reichtums beitrug und nun vor allem ein Erinnerungsort an alte Arbeitskämpfe ist.