dokumentarfilm

12. November 2021

Dosclisboa 2021 Neun Filme

Von Bert Rebhandl

© Ulrike Ottinger

 

Johanna d’Arc of Mongolia Ulrike Ottinger 1989

Eine Reiseutopie trifft auf eine interkulturelle Utopie. Die erste Hälfte spielt in einer Studio-Transsib, eine Gruppe von Frauen ist auf dem Weg nach Osten, dazu ein Gastauftritt von Peter Kern, der eine tolle Gesangsnummer hat. Der jüdische Entertainer Micky Katz, den er spielt, nimmt später die Route nach Wladiwostok, während es die Ethnologin Lady Windermere (Delphine Seyrig), die Baedeker-hörige Deutsche Frau Müller-Vohwinkel (großartig: Irm Hermann), die Sängerin Fanny Ziegfeld (Gillian Scalici) und die junge Abenteurerin Giovanna (Inès Sastre) ins Mongolische zieht. Der Zug wird von lokalem Volk angehalten, die Expedition wird quasi gefangen genommen. Frau Müller-Vohwinkel findet das «romantisch», hat aber ein wenig Angst.

Es entwickelt sich ein «überwältigendes Steppen-Ereignis», man könnte sagen: die Sommer-Festspiele der farbenfroh gekleideten Bevölkerung der chinesischen Mongolei. Die lokale Prinzessin ist die Johanna d’Arc aus dem Titel. Es werden Tiere geschlachtet, Schamanenreisen unternommen, einmal öffnet sich die Erde, das ist der Moment, in dem Frau Müller-Vohwinkel die Seite wechselt. Giovanna, die allseitig begehrt wird, fällt an die Prinzessin. Lady Windermere ist zugleich Moderatorin und Beobachterin, sie erkennt einen Streit von «Doktrinen», weiß also sogar um Schulen in den (teils buddhistischen) Weltverhältnissen, die sich hier zeigen. Vom Ende her bekommt Ottingers Inzensierung eines indigenen Ritualkosmos eine konzeptuelle Pointe: Exotisierung gab es von Beginn an beidseitig, das Rokoko wollte chinesisch sein, der chinesische Hof zur gleichen Zeit französisch. Die Prinzessin lässt in einer wichtigen Pointe erkennen, dass auch für sie das Mongolische ein Spiel mit der Authentizität ist, sie sucht wie viele aus ihrem Volk im Sommer die Jurten auf, um sich eines kulturellen Bezugs zu vergewissern, den sie nach Paris mitnimmt, in die Welthauptstadt des Hybriden.

 

Ghosts from the Past (How History Got Into Me) Boris Lehman. Sarah Moon Howe 2021

Einer der großen Allesfilmer des Kinos tut sich mit einer ehemaligen Stripperin zusammen, um so etwas wie einen Abschiedsfilm zu machen. Sie näht zwar sein Herz, dessentwegen er 2018 auf die Intensivstation musste, symbolisch noch einmal zusammen, es bleibt aber ein Riss (eine fissure/blessure). Sarah Moon Howe legt ihm die Karten, ob es in seinem Leben noch einmal eine Liebe geben wird, kann sie nicht sagen. Sie zieht ihm die Bilder seines Lebens, einen Zelluloidstreifen, buchstäblich aus dem Mund, und setzt ihm (der Film versteht sich als drole d’aventure) Masken auf, die er später ins Meer wirft. Die Bilder der Weltgeschichte rasen vorbei, die fantomes de ma vie bekommen mehr Zeit, viele sind schon tot. Lehman ist um sein Atelier besorgt, für das er keinen einwandfreien Mietvertrag hat. In der Wand zeigt sich auch ein Riss. Die letzte Karte, die er aufgedeckt bekommt, ist der Fuchs (renard, der Odysseus unter den Tieren). Papa Renard.

 

Nous disons révolution Nicolas Klotz Elisabeth Perceval 2021

Ein Essayfilm von einem Paar aus Paris: Nicolas Klotz und Elisabeth Perceval haben von diversen Aufenthalten in Brazzaville, in Barcelona oder in Sao Paolo Material mitgebracht, das sie zu einer phasenweise extrem spannenden Collage über eine neue Konzeption von Revolution verarbeitet haben. Tanz in verschiedenen Formen spielt eine wichtige Rolle, oder generell körperlicher Ausdruck, verstärkt durch eine komplexe, begeisternde Tonspur. Die Ideen von Paul B. Preciado sind eine der Inspirationen, die radikale Veränderung der Verhältnisse wird von einer Abkehr von geläufigen (cartesianischen etc) Subjektpositionen her gedacht. Der Titel entstammt einer der Antithesen, die am Ende programmatisch formuliert werden, zum Beispiel: ils disent pouvoir, nous disons puissance. Also auch: Wir sagen Revolution. Im dritten Teil gibt es eine etwa zwanzigminütige Sequenz, die auf einem afrobrasilianischen Fest gedreht wurde, bei dem die Befreiung aus der Versklavung gefeiert wird: der Umzug zu ekstatischer Musik, die Kamera mitten im Gewoge, und das alles noch mit zahlreichen klugen Akzentuierungen in der digitalen Nachbearbeitung, zählt zu den größten Momenten, die ich im Kino überhaupt erlebt habe. Ich komme auf diesen Film sicher ausführlicher zurück.

 

Winter Vadim Kostrow 2021

Im Juni habe ich in Sheffield (wo ich online akkreditiert war) den Dokumentarfilm Leto (Summer) von Vadim Kostrow gesehen. Eine der Entdeckungen des Jahres. Nun stand der junge Mann persönlich im Cinema Ideal in Lissabon und präsentierte den nächsten Teil seiner Jahreszeiten: Winter in Nischni Tagil, der östlichsten Stadt Europas, wie der Regisseur in der Anmoderation zuspitzte. Eine postsowjetische Industriestadt am Ural. Der Winter ist hier nicht still, sondern durchhallt von einem merkwürdigen Dröhnen, als hätte der Luftdruck einen Sound, oder die Fabriken am Horizont ein Dauerecho. Kostrow zeigt zwei junge Männer (wohl auch so etwas wie jüngere Selbste) in alltäglichen Situationen in einem weitgehend wortlosen Film: Computerspielen in einem dunklen Zimmer, Sprayen auf einsamen Mauern, die der Schnee freistehen ließ, stille Präsenz zwischen aufgekratzten Menschen, die sich in der Winterlandschaft beim Schlittenfahren vergnügen. Das Weiß des Schnees geht in das Grau der Jahreszeit über. Die digitalen Bilder werden von Kostrow bis in das hinterste Pixel eines Zooms strapaziert, mit dem er eine Kerze im Fenster vergrößert, bis ihr Bild abstrakt wird.

 

Idyll Tatiana Lushnikova 2021

Zu Beginn ist der Protagonist Valera in einem Propagandavideo aus dem Jahr 2016 zu sehen, ein prorussischer Söldner auf dem Gebiet der selbst erklärten Volksrepubliken auf dem Territorium der östlichen Ukraine. Nun, einige Jahre später, lebt er in Kozelsk in Russland, ohne Papiere und in provisorischen Verhältnissen. Er spricht über seine Erlebnisse im Krieg, über den Verlust des Angstgefühls, über seine sexuelle Erregung beim Töten. Die Schlachtung eines Kaninchens ruft Erinnerungen hervor an einen Mann aus Odessa, der sich damals auch auf die Seite der Separatisten schlug, der aber den Krieg nicht ertrug und sich mit einer Handgranate das Leben nahm (es heißt auch, er hätte davor von einer Krebserkrankung seiner schwangeren, jungen Frau erfahren). «I’m nuts», sagt Valera einmal, er spricht entweder direkt in die Kamera, oder mit Menschen, mit denen der das Leben in Kozelsk teilt. Religion ist allgegenwärtig, Ikonenlegenden werden erzählt, die eigene Moral wird dazu in ein pragmatisches Verhältnis gesetzt. Valera überlegt, einen Kirchenraub zu begehen, um sich Geld für falsche Dokumente zu beschaffen. Der Film endet nachts im Schein von Straßenlaternen, für deren Licht die Gemeinde kein Geld mehr hat, das nun also von den Leuten bezahlt werden soll. Pasha, 36, schwerer Alkoholiker, wird von der Rettung abgeholt, seine Frau hofft, dass er nicht zurückgebracht wird. Tatiana Lushnikova zeigt die Verhältnisse, um die der Krieg in der Ukraine geführt wurde: Anschluss an ein desolates Russland.

 

O Bom Cinema Eugenio Puppo 2021

Für einen kurzen historischen Moment rund um 1968 tauchte in Brasilien ein cinema post novo auf, man sprach auch von einem Cinema Marginal. Es verstand sich als Reaktion auf das international bereits bestens etablierte Cinema Novo, vor allem auf Glauber Rochas Revolutionskino. Carlos Reichenbach und Rogerio Sganzerla treten hier als Zeitzeugen auf, die Filmausschnitte dienen, teilweise durchaus verwirrend, als Erzählung, die in verschiedenste Richtungen weist: Überwindung des revolutionären Dogmatismus, Spiel mit den Formen (zum Beispiel chanchada, de facto Sexfilme, die psychoanalytisch aufgeladen werden sollten). Es fallen viele Namen und Filmtitel, eine präzisere Einordnung auch der Abgrenzung vom Cinema nicht post novo fällt schwer bzw. ist nicht Vorhaben des Films. 1958 hielt Papst Pius XII eine Rede über den guten Film, daraus entstand in Brasilien (in Minas Gerais) eine Bewegung für Filmbildung (wichtigster Protagonist: Edeimar Massote), die sich wiederum auf die Filmschule Sao Luis in Sao Paulo auswirkte. Zu all dem wäre es spannend, mehr zu erfahren. O Bom Cinema kann eher als Anregung dienen. 1970 schließt sich die Öffnung bereits wieder, das Cinema Novo geht einen Pakt mit der Diktatur ein und gründet das Studio Embrafilme, das ein brasilianisches Kino der Qualität machen wird. Reichenbach und Sganzerla halten sich fern. Audacia und Orgia heißen die beiden Filme, mit denen das Aufleuchten des guten Kinos auch schon wieder endet. 1970.

 

Self-Portrait: Fairytale in 47KM Mengqi Zhang 2021

Seit 2011 filmt Mengqi Zhang in einem Dorf, dessen Name nur aus der Abstandsangabe zu der nächstgelegenen größeren Stadt besteht: 47 Kilometer bis Suizhou (in Hubei, die nächste Metropole wäre dann schon Wuhan). Ein paar Kinder leben hier bei den Großeltern, die Eltern sind zum Arbeiten in Guangzhou. Ich habe also den neuesten zuletzt gesehen, ohne die neun Filme zu kennen, die davor schon an diesem Ort entstanden sind. Mengqi Zhang (im Film wird sie immer Ding Qiqi genannt) baut in dem Dorf ein Haus, ein offenes Haus, wie sie sich vorstellt, in dem die Kinder lernen können, vielleicht sogar so etwas wie ein lokales Kulturzentrum. Während das Gebäude (das erste aus Zement in der Gegend) allmählich wächst, erleben wir den Alltag der Kinder, die zeichnen, lernen, spielen, herumstreifen, nebenbei auch das Filmemachen lernen (es gibt so etwas wie eine Hierarchie der digitalen Kameras, die kleinsten gehören den Kleinsten). Im Abspann liest man, dass Self-Portrait Fairytale in 47KM in ein Folk Memory Project gehört, das an amerikanischen Universitäten zu Hause ist. Dieses sammelt Berichte von Überlebenden des Great Leap Famine in China in den Jahren 1959 bis 1961, in diesem Zusammenhang ist Mengqi Zhangs Projekt wohl eher so etwas wie eine persönliche Randnotiz, die allerdings auch gleich einen ganzen Kosmos eröffnet. Spannend.

 

Uprising Steve McQueen, James Rogan 2021

Der Titel weist die Richtung: die Unruhen im Londoner Stadtteil Brixton (Brixton riot oder, wie es in der euphemistischen Sprache der Regierung später hieß: disturbances) werden hier als Aufstand begriffen. Und sie werden mit einem Ereignis aus dem Dezember 1980 verknüpft. Damals starben bei einem Brand in einem Haus in Lewisham dreizehn junge Menschen, alle «West Indians», wie damals die geläufige Bezeichnung für Schwarze Engländer mit Herkunft aus der Karibik war. Die Untersuchung des New Cross house fire ergab keine schlüssige Brandursache, der Verdacht eines rassistisch motivierten Brandanschlags wurde nicht erhärtet, die petrol bomb theory (oder allgemeiner: die Vermutung einer fascist attack) blieb später auch in einer zweiten Untersuchung „inconclusive“. Uprising ergibt ein Zeitbild, das stark mit McQueens fiktionalem Projekt Small Axe verknüpft wird. Die Folge, die von dort am stärksten in Erinnerung bleibt, war eben die mit einer House Party (mit dem Song Silly Games von Janet Kay im Zentrum). Alex Wheatle, dem der vierte Teil von Small Axe gewidmet ist, tritt in Uprising als Zeitzeuge auf, dazu gibt es zahlreiche weitere Überschneidungen, und ich meine an manchen Stellen sogar Material aus Small Axe als Füller gesehen zu haben. In der Darstellung von McQueen führt eine direkte Linie von der Trauer und Wut über den Tod der Jugendlichen über den Black Peoples Day of Action (mit einer „Schlacht“ an der Blackfriars Bridge) zu den Aufständen im Jahr 1981 (in den Wochen, in denen ein Teil von England auf die Hochzeit zwischen Charles und Diana hinfieberte). Im Verlauf der drei Folgen entsteht ein dichtes Bild von institutionellem Rassismus der Polizei (noch in der historischen Rückschau verkörpert durch Jackie Malton, eine hohe Polizeibeamtin, die kaum zu bemerken scheint, wie herablassend ihr Gerede ist), von den kulturellen Ressourcen des Widerstands (Bob Marley, Linton Kwesi Johnson), und von der Wut, die sich schließlich nicht nur in Brixton Bahn brach: ein Pub, das dabei angezündet wurde, wurde als Rhodesien bezeichnet, weil es keine Schwarzen Gäste erlaubte. In Brixton antworteten „good fires“, „fires of freedom“ auf das Feuer von der New Cross Road. Das ist sicher eine erzählerische Engführung, die Uprising aber sehr überzeugend vertritt.

 

Nuhu Yag Mu Yog Ham: This is Our Land Isael Maxakali, Sueli Maxakali, Carolina Cangucu, Roberto Romero 2020

Das indigene Volk der Tikmu’un lebt an der Grenze der heutigen brasilianischen Bundesstaaten Bahia und Minas Gerais. Sie fühlen sich von den Weißen in der Gegend bedrängt (squeezed), ihre Landansprüche werden ignoriert, und immer wieder werden Tikmu’un ermordet. Der Film beginnt mit historischen Darstellungen der Ankunft der Weißen in Brasilien, dann versammeln sich die Protagonisten in einer Höhle, wo ihre Vorfahren Zuflucht vor der Verfolgung der Kolonisierer fanden. Den Tikmu’un ist unter anderem die Erde heilig (der Lehm, sie sprechen von mother clay), sie leben in einem Universum mit vielen Geistern (Maniok-Geist, Papageiengeist, die Weißen sind Abkömmlinge eines cannibal monster). Sie versammeln sich bevorzugt um Gesangsorte (house of chants). Der Film nimmt dann im wesentlichen den Verlauf eines Lokalaugenscheins, eine Gruppe von Tikmu’un geht an Orte, an denen Menschen aus ihrem Volk getötet wurden, oder durchmessen zu Fuß das Land, das sie als das ihre sehen (ein paar Drohnenaufnahmen zeigen zusätzlich von oben eine prächtige, grüne, hügelige Landschaft). In der Stadt Batinga macht sich einmal ein Weißer wichtig, zwischendurch taucht auch ein argwöhnischer Cowboy auf, ansonsten sind die Tikmu’un unter sich mit dem dokumentarischen Team an ihrer Seite. Sie sind vor allem ständig zu hören: in ihrer eigenen Sprache machen sie ihr Weltverhältnis deutlich, die Wichtigkeit der Gesänge, die Beseeltheit der Bäume (die zunehmend durch Eukalyptus ersetzt werden).

 

© Dosclisboa