dokumentarfilm

6. Januar 2010

Aussatz Gesicht, Mauer, Schrund

Von Ekkehard Knörer

L’ordre

© Jean-Daniel Pollet

 

«Die Ordnung» ist auf der Seite der Medizin. Und die Medizin unterscheidet klar und ordentlich: Krank und Gesund. Eine scharfe Linie wird so gezogen zu den Leprösen. Die Leprösen kommen nicht hinter Gitter, aber hinter Wasser. Auf die Insel Spinalonga. (Genauer gesagt: die Nebeninsel Kalidon.) Eine Mauer, eine Schranke, eine Welt der Eingeschlossenen. Dieser Welt nähert sich, da existiert sie schon nicht mehr, Jean-Daniel Pollet: mit seinem Film L’ordre und darin mit Stimmen aus dem Off, die über die Ordnung nachdenken, die mit der Stimme dessen sprechen, der zwischen krank und gesund nicht so genau unterscheiden will, und gelegentlich gar mit der Stimme der Kranken. Der Welt der Kranken, der Mauer, der Schranke, der Insel hinter dem Wasser nähert sich Pollet mit der Kamera und manchmal sind da elementar nur: die Mauer, die Schranke, der Fels, das Wasser, die Insel, der gehende, eilende Blick der Kamera. Sie ist in Bewegung, sie nähert sich an, sie fährt zu auf die Schranke, sie geht hinein, sie lässt die Mauer hinter sich, sie beobachtet den Boden, die Wände und ihre leprösen Schründe. (Diesen Vergleich lese ich hinein, aber er liegt mehr als nur nahe. Gebäudekörper, verlassen, der Blick raspelt an den Mauern entlang, wieder und wieder.) Unruhig ist diese Kamera. Sie macht Bilder, die sich wiederholen, sie holt aus, sie eilt, sie verlangsamt ihr Tempo, sie schnüffelt auf dem Boden, sie torkelt, sie pendelt auf das Fenster zu und wieder zurück und wieder vor und wieder zurück. Wer führt diese Kamera? Oder ist sie ein Instrument, das sich aus der Ordnung gewohnter Filmbilder gelöst, ein Auge, das sich verselbständigt hat? Und wippt sie vor und zurück wie ein Verrückter? An den leprösen Schründen der Mauern frisst sie sich entlang. Und hält immer dann still, wenn der Aussätzige spricht. Griechisch, eine Stimme wie aus einem Höllenmaul. Die Kamera nötigt uns, nötigt sich, dem Entstellten ins Gesicht zu sehen. Dem Entstellten, der anklagt, aber nicht klagt, der vom Leben und Lieben erzählt der Leprösen auf Spinalonga. (Genauer gesagt: Kalidon.) Natürlich gab es Liebe und Sex und Geburten hinter den Wassern. Die Babys wurden, zur eigenen Sicherheit, abgeholt, ihren Eltern, den ordentlich aus der Ordnung Gestoßenen, aus den Händen gerissen. Heimgeholt in die richtige Gesellschaft, die Gesellschaft der Geswunden. Der Entstellte, der so überaus artikuliert ist, mit feuriger Stimme spricht und gegen Ende in den Handstummeln seine Zigarette hält, der Entstellte wird im Film nicht an Ort, Zeit und Stelle genagelt. Er ist reine Präsenz, er erinnert sich, er spricht vom Vergangenen, er ist Zeuge, er ist Stimme des Films, von dem er zugleich vermutet, er werde ihn auch nur benutzen, (das ist mitgesagt im Film), er ist Stimme der Aussätzigen (spät, sehr spät erst wie beiläufig weitere Bilder von anderen Kranken), er hat es hinter sich, man kann es nicht hinter sich haben. Er klagt nicht, er klagt an, er klagt nicht an, er konstatiert, mit Leidenschaft, er reflektiert, er bezeugt, er ist die Stimme, der schrundige Fels, vor dem die sonst so unruhige Kamera innehält, vor dem die sonst so gesprächigen Stimmen verstummen, er ist, schwarz-weiß, dann in Farbe, nicht mehr und nicht weniger als der zur Sprache gekommene Aussätzige bei Jean-Daniel Pollet.