tiff 2012

18. September 2012

Toronto 2012 20 Filme in 8 Tagen

Von Bert Rebhandl

After the Battle (Yousri Nasrallah)

Ein erzählerischer Versuch, die Antagonismen in der ägyptischen Gesellschaft zu überwinden: Die junge, modern denkende Aktivistin Reem lernt Mahmud, einen der „Reiter aus Nazlat“ kennen, der 2011 bei der «Schlacht der Kamele» am Tahrirplatz dabei war und durch ein Handyvideo zur unrühmlichen Symbolfigur der Mubarak-Handlanger wurde. Die Beziehung zwischen Reem und Mahmud lotet Nasrallah in allen ihren persönlichen, sozialen und politischen Dimensionen aus, in einer durchaus melodramatischen Form, die aber in jeder Szene gesellschaftlichen Sinn macht. Tolles Schlussbild. 80

 

Like Someone in Love (Abbas Kiarostami)

Eine Nacht und ein Morgen mit einem japanischen Escort-Mädchen, das zu einem alten Intellektuellen bestellt wird, der ihr mit einer Suppe aufwartet, die ihr gar nicht schmeckt, und sie am nächsten Morgen noch zu einer Prüfung fährt, bei der auch ihr aggressiver Freund auf sie wartet. Kiarostami macht den nächsten Schritt in die kulturelle Fremde, und arbeitet anscheinend an einem Universalidiom des Autorenkinos, das hier überraschend plausibel wirkt. 75

 

Three Sisters (San zimei) von Wang Bing

Dokumentarfilm über die drei kleinen Töchter eines alleinerziehenden Vaters in einem Dorf in Yunnan. Auf über 3000 Metern Höhe leben die Leute unter einfachsten Bedingungen, trotz reicher landwirtschaftlicher Erträge bestimmt die Armut (und der Dreck, und der Rauch der Herdstellen) alles. Vor allem die zehnjährige Yingying wird als «Mutter» enorm beansprucht, und wenn sie einmal nichts zu tun hat, knetet sie (in dem stärksten Moment des ganzen Films) minutenlang geistesabwesend ein Stück Zellophan. San zimei erzählt auch davon, dass sich heute unter schwierigsten Bedingungen technisch brillante Filme herstellen lassen – Wang Bing schafft es allerdings, den technischen Anachronismus beinahe vollständig in einer packenden, unmittelbaren Erzählung zum Verschwinden zu bringen. 88

 

The Master von Paul Thomas Anderson

Am Anfang ist alles reine Bewegung. Joaquin Phoenix läuft vor allem davon, bis er (in der besten Szene des Films, sie kommt sehr früh) an einem Schiff angelangt, das illuminiert und voll mit Festgästen vor Anker liegt. Er geht an Bord, und fortan ist er Teil der Gesellschaft um Lancaster Dodd (Philip Seymour Hoffman), einen seltsamen Charismatiker, den jeder vernünftige Mensch sofort durchschauen würde. Aber solche kommen in The Master nicht vor (der einzige Anwärter wird übel abgekanzelt). Brillant lässt Anderson die beiden Spitzencharismatiker aufeinander los, erkundet dabei ausführlich die entgleiste Gesichtslandschaft des linksfurchigen Phoenix, steigt in die Tiefen des Basses von Seymour hinab, und schwingt sich, auch mit einem grandiosen Soundtrack, zu expressionistischen Bildopernhöhen auf. Worum es in The Master aber eigentlich geht, bleibt vollkommen im Ungefähren: ein Geniestück ohne Welt, ganz versunken in die eigenen Virtuosität. 64

 

At Any Price von Ramin Bahrani

Dennis Quaid ist ganz groß als Farmer Henry Whipple, der in Iowa voll das Expansionsprogramm fährt, und dabei auch als Agent eines agrarindustriellen Giganten tätig ist («Whipple Wants You»). Sein Sohn will Rennfahrer werden, er träumt von Nascar, will also auf andere Weise mitten hinein ins Herz des weißen Amerika. Das Drama entfaltet sich mit vielen Zwischentönen in beinahe klassischer Manier und mit geschickt orchestrierten Kollektivszenen. Nach seinen neorealistischen Anfängen (Chop Shop) nähert Bahrani sich hier einer Idee von Mainstream, die kritisch und populär zugleich ist (nicht unähnlich dem, was Jeff Nichols in Take Shelter versuchte). Großer Schritt in die richtige Richtung, daran ändern auch ein paar didaktische Momente nichts. 90

 

The Act of Killing von Joshua Oppenheimer

Eine Weile war ich mir nicht sicher, ob es sich hier um ein frivoles oder ein moralisches Experiment handelt: Indonesische Männer, die nach 1965 Jagd auf Kommunisten machten, reflektieren über ihre Mordtaten, indem sie sie filmisch und nach einschlägigen Vorbildern (von The Godfather bis zu kitschigen Bollywood-Wasserfallballaden) reinszenieren. Allmählich werden die Differenzen deutlicher: Zwischen Anwar und Herman, zwei unglaublichen Gestalten, gibt es doch Gewissensunterschiede, die aber vielleicht nur gespielt sind. Die erschütternden Ambivalenzen seines Films reichert Joshua Oppenheimer noch mit provozierenden Szenen aus der indonesischen Spitzenpolitik an. Errol Morris und Werner Herzog standen Pate. 86

 

Here Comes the Devil (Ahí va el diablo) von Adrián García Bogliano

Sicher der wildeste Film, den ich heuer in Toronto gesehen habe, ohne Sägegitarren und Death Metal wahrscheinlich nicht zu verkraften: Im Prolog endet lesbischer Sex in einem Gemetzel, später verschwinden zwei Kinder in einer Felsspalte, ein Höschensammler wird übel zugerichtet, und nachts steigt der Teufel persönlich auf eine Mädchenbrust (die Piercings stammen aber nicht von ihm?). In Tijuana liegt mehr im Argen, als wir von Don Winslow bisher wussten. 666

 

La chica del sur von José Luis García

Dokumentarfilm um eine junge Frau aus Südkorea, die 1989 berühmt wurde, als sie sich zu einem Jugendtreffen ins kommunistische Nordkorea durchstahl. Der argentinische Regisseur war damals im Land, seine Videoaufnahmen zählen zu den interessantesten Momenten. In der Gegenwart erweist sich Lim Sukyung als schwer zu fassen, der Film bekommt dadurch eine leicht pikareske Note, ohne aber jemals in falsche Selbstironie zu verfallen. 62

 

Shores of Hope (Wir wollten aufs Meer) von Toke Constantin Hebbeln

Drama um drei Männer, die um 1985 aus der DDR wegwollen: Hornung (August Diehl) will auf ein Schiff, Matze (Ronald Zehrfeld) will klassisch «rübermachen», und Conny (Fehling) ist zerrissen zwischen verschiedenen Loyalitäten und Wünschen. Das ist der deutlichste Versuch, das Leben der anderen neuerlich auf Donnersmarck-Format hochzupumpen: planlose Szenen, verfahrener Suspense, groteske Momente zeugen von fehlgeleiteter Ambition. Falsches Vorbild vielleicht? 5

 

Hyde Park on Hudson von Roger Michell

Nur gesehen, weil ich mich auf ein Interview mit Bill Murray vorbereiten musste. Teils angenehm überrascht: Eine subtile Komödie über den Staatsbesuch der englischen Krone (Berti und Elizabeth) bei Roosevelts im Wochenendhaus anno 1939. Es geht um die kleinen Geheimnisse in großen Häusern. Wirklich großartig ist das Königspaar: zwei verzweifelt um Haltung und Orientierung bemühte «Komplexhaufen». Nicht so interessant: wer wann mit wessen Wissen FDR einen «handjob» verabreicht hat. Aspiriert auf die Zuschauer (und Preise) von The King’s Speech, ist aber interessanter.

 

Virgem Margarida von Licinio Azevedo

Mit ziemlicher Sicherheit der erste Film aus Mozambique, den ich in meinem Leben gesehen habe. 1975 wird das Land unabhängig, aber «der Kampf geht weiter», wie zu Beginn ein Transparent verkündigt. Eine Gruppe «leichter» Mädchen wird in einer nächtlichen Razzia eingesammelt und dann nach Norden verbracht. Währenddessen sitzt eine Freiheitskämpferin einem Vorgesetzten gegenüber und lässt sich von ihm zu «revolutionärer Geduld» verdattern. Statt nach Hause zu gehen und eine Familie zu gründen, leitet sie nun ein Lager im Busch, in dem die «putas» zu «neuen Frauen» umerzogen werden sollen. Ein simpel gehaltener, klar geschichtspolitischer Film, der sich spät, dann aber eindeutig gegen den revolutionären Furor wendet. Von «women in prison»-Sleaze weiß der gebürtige Brasilianer Azevdeo nichts, oder er will nichts wissen. 62

 

Departure von Ernie Gehr

Ein rund zwanzigminütiger, dreiteiliger Videofilm, der in einem der Wavelengths-Programme lief: Drei «tracking shots» aus einem Eisenbahnfenster, einer davon auf den Kopf gestellt; eine einfache, filmhistorisch beziehungsreiche Arbeit, die an den konzeptuellen Witz von Waterfront Follies anschließt; die dritte Fahrt, durch eine allmählich in die Dämmerung sinkende urbane Peripherie, hat mich absolut begeistert. 75

 

Bella addormentata (Sleeping Beauty) von Marco Bellocchio

Die ganze italienische Gesellschaft versammelt sich in diesem panoramatisch-dramatischen Film im Jahr 2009 um eine biopolitische Entscheidung des Parlaments über Leben oder Sterben einer Komapatientin (deren Fall natürlich gesetzgebend verallgemeinert werden muss). Genau das macht Bellocchio, nicht gesetzgebend, auch, indem er vergleichbare Geschichten und Motive aufeinander abbildet, und dabei an das klassische italienische Politkino zugleich anschließt wie es auf den Stand heutiger Konflikte bringt. 96

 

Imogene von Shari Springer Berman und Robert Pulcini

Kristen Wiig verfeinert ihr Profil nach Bridesmaids mit dieser kleinen Komödie um ein Mädchen aus New Jersey, das es unbedingt in New York schaffen wollte, dort aber erst einmal ziemlich auf die Nase bekommt. Also unstrategischer Rückzug zu Muttern (Anette Bening), und neuer Anlauf mit Unterstützung eines süßen Jungen und des verschrobenen Bruders. Ein Zwischenwerk, aber unbedingt mögenswert. 72

 

The Last Time I Saw Macao (A Última Vez Que Vi Macau) von Joao Pedro Rodriguez und Joao Rui Guerra da Mata

Ein Dokumentarfilm über Macao, der sich die Form eines Thrillers gibt: Der portugiesische Erzähler wird von seiner transsexuellen Freundin Candy in die ehemalige Kolonie gerufen, dort findet er sie aber nicht vor, stattdessen gerät er in eine wilde Geschichte mit vielen Toten (die aber meistens im Off sterben). All das gibt den beiden Filmemachern Gelegenheit, sich in Macao mit der Kamera umzutun und einen fremden, seltsamen Ort angemessen zu entdecken. 70

 

To the Wonder von Terrence Malick

Eine «avalanche de tendresse», die im Gemurmel untergeht: Malick erzählt von einer französischen Frau, die einem Amerikaner in die Prärie folgt, dort aber nicht heimisch wird (auch deswegen, weil er zwischendurch zu einer Blondine wechselt, generell aber unzugänglich wie ein Marlboromann ist). Die neueste Kunstanstrengung des nun eindeutig ins mystische Fach gewechselten Malick lässt vom Baum des Lebens nur noch das hölzerne Antischauspiel von Ben Affleck übrig. 23

 

Byzantium von Neil Jordan

Der irische Regisseur sucht den Anschluss an seinen großen Erfolg Interview with a Vampire: Zwei ewig junge Mädchen beziehen bei einem verklemmten Mann ein altes Hotel, in dem sich die Blutsaugerexistenzfragen rund um einen Spitznagelorden („the pointed nails of justice“, haha) entscheidend, pardon, zuspitzen. Wilde Bilder von einer Felseninsel sorgen für Belebung, Gemma Arterton gibt sich voluptuös, insgesamt reicht das aber nicht einmal so richtig für höheren Blödsinn. 43

 

The Land of Hope (Kibo no kuni) von Sion Sono

Der Versuch einer fiktionalen Konkretisierung dessen, was die Nuklearkatastrophe in Japan ausgelöst hat: Sion Sono verzichtet nicht vollständig auf Stilisierungen, bleibt aber für seine Verhältnisse fast realistisch in der Schilderung dreier Paare, die sich im Sperrgebiet und an dessen Rändern zurechtzufinden versuchen. 58

 

Leviathan von Lucien Castaing-Taylor und Verena Paravel

Außergewöhnlicher Dokumentarfilm über einen Fischtrawler vor der Küste von Massachusetts: Eher eine Art «Symphonie des Meeres» als eine Schilderung gewerblicher Vorgänge, in Bild und Ton stark bearbeitet, wodurch die Sache zugleich ungeheuer physisch, aber auch sehr künstlich wird. Toller Film, an dem mir am besten die Szenen gefielen, in denen wir mit der Kamera ertrinken. 82

 

Gebo et l’ombre (Gebo and the Shadow) von Manoel de Oliveria

Auf Grundlage eines Theaterstücks von Raul Brandao inszeniert de Oliveira eine Studioproduktion, in deren Zentrum Michael Lonsdale steht: ein alter Angestellter, der sich bescheidet, während seine Frau und sein anfangs abwesender Sohn größere Ambitionen hegen. Darin eine Parabel auf den Neoliberalismus zu sehen, wie es die Liner Notes des TIFF nahelegen, ist wohl ein wenig weit hergeholt. 56