19. September 2009
TIFF 2009 Notizen vom Toronto International Filmfestival 2009
Un Prophete (Jacques Audiard, Frankreich)
Malik, ein arabischer Franzose, kommt ins Gefängnis, wird dort brutal initiiert und lernt sich allmählich zu behaupten. Audiard erzählt im Grunde den sechsjährigen Gefängnisaufenthalt von Malik (mit wichtigen Freigängen) als Einübung in einen großkriminellen Lebensstil und als Rearabisierung des anfangs ethnisch gleichgültigen Protagonisten. Ein definitives chef d’oeuvre, auf das wir noch ausführlich zurückkommen werden.
Hotel Atlantico (Suzana Amaral, Brasilien)
Ein Mann in mittleren Jahren, Typ Jesus mit langen Haaren und Bart, den Menschen des Films anscheinend bekannt aus dem Fernsehen, läuft vor sich selbst davon (das geht aus einer markanten Szene vor einem Spiegel in einem Hotel hervor) und gerät auf eine Reise durch das südliche Brasilien, auf der sich seltsame Dinge begeben. Die Logik von Tagträumen bestimmt Hotel Atlantico, alles ist möglich, alles ist seltsam, ein Ziel kennt die Erzählung nicht.
Backstory/Cinema Museum (Mark Lewis, Kanada)
Zwei Kurzfilme des kanadischen Künstlers. In Backstory erzählen zwei auf Rückprojektionen spezialisierte Hollywood-Professionals vor rückprojizierten Bildern aus ihrem professionellen Leben. In Cinema Museum führt eine Frau durch eine filmmuseale Sammlung. Der zweite dieser beiden mittellangen Filme hat mich vor allem als Horrorfilm überzeugt – so sieht eine Cinephilie aus, die an den Bildern des Kinos nicht das Auslangen findet, sondern sich auf die Objekte konzentriert (Plakate, Projektoren, Tand, Tand, Tand) und alles aufhebt. Ich habe auch viel Zeug, aber das geht zu weit.
Petropolis: Aerial Perspectives on the Alberta Tars Sands (Peter Mettler, Kanada)
Luftaufnahmen von der Ölsandgewinnung in den Wäldern des nordwestlichen Kanada: Der Film wurde von Greenpeace produziert, setzt dabei die politische Argumentation (die vor allem auf den ungeheuren Energie- und Umweltkosten aufruht, die diese Form der Ölgewinnung mt sich bringt) voraus und apokalyptisiert diese durch mondlandschaftliche Bilder von Pipelines, aus denen übles Zeug kommt, rauchenden Schloten und vor allem den giftigen Baggerseen, in denen unter anderem 1600 Enten einen Tod gefunden haben, über den zur Zeit in Kanada prozessiert wird. Mich würde dagegen einmal ein Film interessieren, der beide Ende einer Pipeline zeigt und von mir aus auch deren Verlauf, ein Film also, der einen Zusammenhang zeigt und nicht gleich agitiert.
Independencia (Raya Martin, Philippinen)
Schwarzweiß und im Studio gedreht, erinnert Independencia an den Beginn der amerikanischen Besatzung der Philippinen, überformt von naturmythischen Bildern – ein interessantes Nationalkinoexperiment als späte Rückgewinnung eines frühen Kinos, das die Philippinen nicht hatten.
Waterfront Follies (Ernie Gehr, USA)
Stellvertretend für das Avantgarde-Programm Wavelength 1, in dem auch der großartige Hotel Roccalba von Josef Dabernig lief (dazu an geeigneter Stelle mehr): Drei Sonnenuntergänge im Brooklyn Harbour als drei Variationen auf einen Vorgang, der jeden Tag gleich abläuft und doch jedesmal eine spezifische Erzählung ergibt, wobei die drei «Erzählungen» dann auch noch jeweils Antworten auf Fragen enthalten, die sich in einer der beiden anderen Einstellungen ergeben. Das Wort «Follies» im Titel lässt sich auf das Technicolor mancher Musical Follies wie auch auf Trickfilm-Spässe beziehen, die Farbe ergibt einen weiteren wichtigen Aspekt in diesem heiteren Alterswerk des großen US-Avantgardisten (Eureka, Serene Velocity).
Vincere (Marco Bellocchio, Italien)
Für mich ein potentieller Film des Jahres: Bellocchio erzählt die Geschichte des italienischen Faschismus als politisches Melodram mit seria- wie buffo-Elementen aus der Perspektive der ersten Ehefrau von Mussolini, die einen Sohn mit ihm hatte und von ihm in dem Moment, in dem seine Karriere Momentum bekam, verstoßen wurde – die verdrängte Frau ist unser Organ für die historische Bewegung. Formal in jeder Einstellung riskant, theoretisch kühn, und voller Überraschungen: Vincere ist ein Triumph. (Hoffentlich hält diese Einschätzung beim zweiten Sehen.)
Accident (Soi Cheang, Hongkong)
Ein Team aus vier Leuten (das Hirn, der Onkel, der Fette, die Frau) lässt Auftragsmorde wie Unfälle aussehen. Als ein Unfall einen Auftragsmord durchkreuzt, stellt sich die Frage: War es ein Unfall? Daraus entwickelt sich ein großartig paranoider Thriller.
Tales from the Golden Age (Cristian Mungiu, Rumänien)
Episodenfilm mit «Legenden» aus den späten Jahres des rumänischen Kommunismus unter Ceauscescu: Ein bisschen verspätete Regimekritik, interessanter aber gerade auch mit Blick auf die doch deutlich andere Nachgeschichte der DDR in Deutschland als Anschluss an eine untergründige, subversive Erzähltradition. Dazu demnächst mehr in unserer Reihe Cinema Jormania.
Collapse (Chris Smith, USA)
Interviewfilm mit einem einsamen Bescheidwisser: Michael Ruppert hatte und hat der Welt alles Mögliche zu sagen (zum Beispiel zur Weltfinanzkrise), hat dazu aber kein anderes Mandat als seine Empörung und seine private Weise, das Wissen zu ordnen. Collapse erinnert unweigerlich an Arbeiten von Errol Morris und stellt auf eine anscheinend simple Weise zahlreiche entscheidende Fragen über alle möglichen kognitiven Dissonanzen.
White Material (Claire Denis, Frankreich)
Isabelle Huppert als eingeborene Kolonialfranzösin in einem auseinanderfallenden zentralafrikanischen Staatswesen: Mythisch und literarisch resonant, aber auch gewohnt «physisch» sucht Claire Denis nach einer Möglichkeit, Afrika als Rohstoff und Projektionsfeld zu filmen. Großartig, auch dazu wird es noch viel mehr zu sagen geben.