iffmh 2023

9. Dezember 2023

IFFMH 2023 International Film Festival Mannheim Heidelberg: Neun Filme

Von Bert Rebhandl

Talia Ryder in The Sweet East

© IFFMH

 

Upon Entry (Alejandro Rojas & Juan Sebastián Vásquez) Spanien 2022

Diego und Elena fliegen aus Spanien nach New York. Sie haben Einwanderungsvisa dabei, sind aber trotzdem nervös, vor allem Diego (das Prozedere vor und bei der Passkontrolle erscheint ihm «downright scary»). Sie müssen sich einer secondary inspection unterziehen lassen, werden in einen separaten Raum geführt. In verschiedenen interviews wird ihre gemeinsame Geschichte deutlicher, dazu verschiedene Weisen, sie einzuschätzen. Diego ist aus Venezuela (einem fucked-up country, sagt Elena einmal). Zu Beginn war aus dem Radio Text über Trump und die wall zu hören, das ist der größere Kontext. Upon Entry ist kompakt, spannend erzählt, exzellent geschrieben: der Thrill kommt aus der Situation (zwei Individuen stehen an einem Wendepunkt ihres Lebens einer schwer lesbaren, fremden Übermacht/Staatsmacht gegenüber, die mehr über sie zu wissen scheint, als sie selbst voneinander wissen). Erzählerisch eine Gratwanderung, die ziemlich perfekt gelingt, denn die ärgste Immigration-Folklore aus den Jahren nach 9/11 und unter Trump ist ja derzeit wieder ein bisschen historisch, hier macht alles quasi auch für ein nicht vollkommen paranoides System Sinn, denn man denkt ja die ganze Zeit mit: Ist das rational, was da gerade geschieht, oder Terror? Es ist rational, fühlt sich aber an wie Terror.

 

The Sweet East (Sean Price Williams) USA 2023

Lillian, die sich auch manchmal Annabel nennt, hat gerade ihre Jungfräulichkeit hinter sich gebracht (mit einem Jungen namens Troy). Von einer Klassenfahrt nach Washington büxt sie aus, oder ist das gar nicht das richtige Wort? Sie gerät einfach auf andere Wege, sie folgt Momenten, einer intuitiven Bewegung. Sie landet bei Lawrence (Simon Rex), einem leicht manischen Akademiker und Bildungsbürger und Rechtsradikalen, der sie für eine Weile bei sich aufnimmt, in dieser Viertelstunde oder so ist der Film nahe bei Lolita. An dem Punkt aber, an dem diese Beziehung aporetisch (oder banal) wird, nimmt der Film eine großartige Wendung, und dann steigert sich das Prinzip Überraschung (Drehbuch: Nick Pinkerton) noch ein paar Mal. Auch eine Gratwanderung, mit einer traumwandlerischen, erotisch aufgeladenen Frauenfigur (Talia Ryder) im Zentrum zahlreicher weirder, obsessiver Besetzungsakte, die sie aber alle nicht wirklich beeinträchtigen. In einer fantastischen Szene steht sie in einem viktorianischen Kleid einer Gruppe (radikaler?) Muslime gegenüber, und bekommt von einem (Auflösung der Spannung!) eine CD mit Bismillah-EDM mit auf den Weg. Der Weg führt aus dem Wunderland des süßen Ostens der USA zurück nach Hause, in eine Welt, aus der nun ein neuer, bewussterer Aufbruch erfolgen kann.

 

Inside the Yellow Cocoon Shell [Bên Trong Vo Kén Vàng] (Pham Thien An) Vietnam 2023

Nach einem Unfall (zwei Motorräder kollidieren, zwei Menschen sterben) sieht Tienh sich mit der Verantwortung für seinen kleinen Neffen Dao konfrontiert: die Mutter ist eines der Opfer, der Vater Tam ist schon lange abwesend. Sehr ruhig erzählt Pham von einer behütenden Trauerarbeit und von Ritualen des Abschied, dies alles in einem christlich-vietnamesischen Kontext, in dem an einer Stelle ausführlich Rosenkranz gebetet wird, und in dem immer wieder auf die Möglichkeit oder Unmöglichkeit des Glaubens reflektiert wird. Ein Freund hat sich in ein Dorf zurückgezogen, er ist fromm, präpariert aber auch Hähne für Kämpfe. An einer Stelle sehen wir eine lange Fahrt zu einem alten Mann, der dann ausführlich von seiner Zeit im Krieg (auf der Seite des Südens, also gegen die Vietcong) erzählt, dies alles in einer verhangenen Atmosphäre, die Kamera immer diskret im Hintergrund oder außerhalb des Hauses. Irgendwann taucht eine Nonne auf, die sich als Jugendliebe von Tienh erweist, die Rückblende hat etwas Magisches in einem Gebäude, das vielleicht noch eine Ruine aus dem Krieg ist, auch das in Einstellungen, die immer offen auf die Landschaft und zugleich sehr intim sind. Die Jahreszeiten, die Feuchtigkeit, der Dreck auf den ungeteerten Straßen, der Dunst, man konnte das alles fast spüren. In einer grandiosen Szene filmt Pham einfach nur die Morgendämmerung in einer üppigen Vegetation, mittendrin zwei Hähne und ein akustischer Hahnenkampf. Das Publikum war drei Stunden höchst konzentriert dabei, ein paar Leute gingen (spät, aber doch noch vorzeitig), aber ich habe selten so intensiv das Erlebnis Kino gespürt, diese gemeinsame Konzentration auf das Fenster in eine andere Welt. Was hilt es dem Menschen, wenn er sein Leben gewinnt, aber seine Seele verliert? Dieses durchaus rätselhafte Jesus-Wort könnte als Idee für den ganzen Film dienen.

 

Omen [Augure] (Baloji) Belgien/F/DR Kongo 2023

Koffi und Alice leben in Paris zusammen. Sie erwarten ein Kind. Nun möchte Koffi noch den Segen von seiner Familie einholen, er hat sogar eine Aussteuer zusammengekratzt. Die Familie lebt in der DRK (Demokratische Republik Kongo). Der Vater arbeitet in einer Mine, er entzieht sich der Begegnung mit dem Sohn, das ist eine Form von Suspense: warum kommt Koffi an ihn nicht heran? Warum kommt der Vater nicht von der Arbeit zurück? Baloji konfrontiert verschiedene belief systems miteinander. Koffi könnte man als verwestlicht bezeichnen, er trifft auf Formen von Zauberei, jedenfalls werden manche Vorgänge so gelesen. Seine Schwester Tshala ist eher nach Südafrika orientiert, sie muss sich mit einer Geschlechtskrankheit herumschlagen, die sie von ihrem (abwesenden) Freund bekommen hat. Gibt es dafür eine traditionelle Behandlung? Und schließlich rückt auch Koffis Mutter Mujila ins Zentrum der Aufmerksamkeit.  Augure heißt der Film auf Französisch, ich fand, dass Baloji eine gute Form für die Auseinandersetzung mit Ursprünglichkeit und Entfremdung gefunden hat.

 

The Feeling That the Time for Doing Something Has Passed (Joanna Arnow) USA 2023

Die Autorin und Regisseurin Joanna Arnow spielt selbst die Hauptrolle in dieser Deadpan-Komödie über eine Frau, die als Sub verschiedene Verhältnisse mit Männern eingeht: jedes Mal ist auch die Submissivität ein bisschen anders, je nach dem Typ, der ihr auf der anderen Seite gegenübersteht. Erstes Bild: Ann und ein Mann im Bett, sie reibt ihr Geschlecht an seinem Schenkel, er schläft, es gehört zu seiner Rolle, dass er sich um ihre Lust nicht kümmert, sie möchte wahrgenommen werden, oder auch nicht – genießt sie in diesem Moment seine Distanz? Es sieht nicht so aus. Arnow ergänzt den verhaltenen Slapstick der «Sexszenen» mit Aufnahmen aus dem Berufsleben, wo ähnliche oder analoge Rollenspiele stattfinden. Dazu kommen Besuche bei der Familie, bei den beiden alten Eltern. Schwer zu fassen, wie die Komik genau funktioniert, ist sie vielleicht in erster Linie self condescending, wie man auf Englisch sagen würde, oder geht es um eine sukzessive Ermächtigung von Ann?

 

An Endless Sunday [Un sterminata domenica] (Alain Parroni) Italien 2023

Alex, Brenda und Kevin sind drei junge Leute in Rom, die zwischen Stadtzentrum (Vatikan) und Peripherie hin und her unterwegs sind – am Stadtrand gibt es eine Großmutter, die den einzigen im Film erkennbaren familiären Bezug darstellt. Die drei leben in den Tag hinein, suchen Rauschzustände, aber auch Beschäftigungen. Brenda ist schwanger, will das Kind bekommen, mit dem ganzen Pathos eines jungen Lebens, das schon ein neues hervorbringt. Alain Parroni erzählt impressionistisch und epidodisch, in einem fahlen Licht, mit Hang zu großen Szenen: eine entscheidende Auseinandersetzung zwischen den dreien findet an einem Strand bei untergehender Sonne und mit wirklich beeindruckender Wolkenkulisse statt. Danach eskaliert etwas, und auch Parroni packt auf seine offensichtliche Virtuosität noch einmal eine Ladung drauf. Luca Guadagnino und Harmony Korine haben einen starken Konkurrenten / Mitstreiter gefunden. Lars Rudolph arbeitet in einer kleinen Nebenrolle als «Bauer» im Niemandsland zwischen Stadt und Land an seinem Image als Schrat.

 

The Settlers [Los Colonos] (Felipe Gálvez) Chile/Argentinien 2023

Das Ende der Welt liegt von Chiles Tierra de Fuego aus gesehen im Osten, an der Atlantikküste. Dort landet Ende des 19. Jahrhunderts eine kleine Expedition, die eine Route für den Schafhandel erkunden soll: drei Männer, ein Schotte, ein Engländer und ein «mestizo» namens Segundo. Sie reiten los, der Film hat eine Menge Landschaft zu bieten («a land where there is freaking nothing», die Erstreckung wird in Tagen gemessen), zwischendurch gibt es ein Massaker an Indigenen (der Engländer hat Erfahrungen aus dem Genozid in Nordamerika), Segundo wird dazu gezwungen, sich auch schuldig zu machen (an einer Frau). Er sieht dem Rassismus schweigend zu. Man begegnet einem Colonel, der Erfahrungen im Transvaal gemacht hat (noch eine koloniale «Front» im Hintergrund dieses Films), er schwingt große Reden am Lagerfeuer und nimmt MacLennan, den Expeditionsleiter, später anal im Stehen. Mit dem Erreichen der Küste endet Teil 1, der zweite Teil spielt sieben Jahre später in Punta Arenas, wo der Agrarkolonist, der zu Beginn die drei Männer losgeschickt hatte, weit entfernt von der Hauptstadt eine kleine Insel der «Zivilisation», mit Hausmusik und Polstermöbeln, unterhält. Ein Politiker taucht auf, der sich für «justicia» interessiert, in Kontakt mit Indigenen treten und Näheres über mögliche Gräuel in Erfahrung bringen möchte. Er findet Segundo, der nun abgelegen mit seiner Frau Rosa lebt, und lässt einen kleinen Film kurbeln, zu dem sich Rosa nur widerwillig bereit findet, in die Kamera zu blicken. Ihre Resistenz verortet Felipe Galvez exakt am Ursprung des Kino (im letzten Bild fährt auch noch, wie bei den Lumières, ein Zug in einen Bahnhof, es folgen im Abspann Archivfilme aus dem kolonialen Chile): das Medium, das von Europa aus die Welt erkundete und objektivierte, holt sich hier in einer ambivalenten Bewegung noch einmal selbst an seinen Anfängen ein, in einem Moment der Verweigerung. Tolles Manöver.

 

Red Rooms [Les chambres rouges] (Pascal Plante) Kanada 2023

In Kanada findet ein Prozess gegen einen Mann statt, der mutmaßlich drei Mädchen gefoltert und getötet hat, und davon Aufnahmen gemacht hat, die im «dunklen» Netz gegen viel Geld versteigert werden. Das Prozedurale an diesem Verfahren nimmt im Film großen Raum ein, die funktionale Sterilität des Raums spiegelt förmlich die andere des Schreckensraums, zwei Aufnahmen liegen vor (werden aber natürlich nur indirekt und in knappen Ausschnitten gezeigt), die dritte fehlt. Pascal Plante erzählt durch die Perspektive eines Prozess-Groupies: Warum Kelly-Anne so intensiven Anteil nimmt, wird nicht ganz deutlich, sie lebt in einem Hochhaus ein digitales Höhlenleben, verdient viel Geld beim professionellen Online-Pokern, und investiert das Ganze schließlich bei einer besonderen Auktion. Einen großen Twist gibt es nicht in Les chambres rouges, der Film begibt sich in erster Linie auf die digitale Rückseite der modernen Legende von den «roten Kammern» (einer neueren Version der früheren Snuff Movies), erzählt davon aber zum Glück nicht allzu spekulativ, sondern insgesamt plausibel und angesichts der grausamen Geschichte fast nüchtern.

 

Südsee (Henrika Kull) Deutschland 2023

Ein Haus mit Terrasse und Pool rund dreißig Kilometer außerhalb von Jerusalem. Hier wollen Anne und Nuri ein wenig ausspannen, und auch arbeiten. Sie schreibt an einem Drehbuch, über einen israelischen Soldaten, der an einem Einsatztrauma leidet. Er liest Felix Weltsch, einen Autor, den ich davor nicht gekannt hatte, der mir dann aber am selben Tag (!) noch einmal in einem Text über Max Brod unterkam – eine kleine Laune des Lebens. Anne ist Deutsche, Nuri ist Israeli, sie kennen einander aus Berlin. Ihre Beziehung ist zu Beginn unklar (sie hält es für möglich, dass er schwul ist, er antwortet «Ne, eher nicht»), sie bleibt auch unklar. Jedenfalls aber sind sie in einem Verhältnis wechselseitiger Projektionen befangen, das Deutsche, das Jüdische, Israel, Deutschland, die wild wild West Bank. Nebenan wird ein weiteres Haus gebaut, das die Aussicht irgendwann verstellen wird – die Arbeit machen Palästinenser. Ein klug geschriebener und mit kleinen Interpunktionen gut inszenierter Film über ein vielschichtiges Verhältnis.

 

Inside the Yellow Cocoon Shell

© IFFMH