23. Dezember 2024
50 Jahre Nelkenrevolution Das Dokumentarfilmfestival doclisboa
Mitten während der diesjährigen doclisboa wurde in Couva da Moura ein junger Mann nach einer Polizeikontrolle auf der Flucht von einem Polizisten erschossen. Die Lissabonner Favela, in der viele Migranten aus Cabo Verde leben, ist für solche Vorfälle bekannt, aber auch für den Aktivismus ihrer Bevölkerung und Kunstaktionen wie eine gemeinsam mit der amerikanischen Magnum-Fotografin Susan Meiselas produzierte Fotoausstellung. Einer der Bewohner klagte nach der erneuten Polizeigewalt, dass die Menschen sich hier wie «Immigranten im eigenen Land» fühlen. Am Tag nach dem Tod von Odair Moniz organisierte die Bewegung «Vida justa» eine Demonstration gegen strukturellen Rassismus und Polizeigewalt, die direkt am zentral in der Innenstadt gelegenen Cinema São Jorge, einem der doclisboa Kinos, vorbeiführte. Zeitgleich rief die ultrarechte Partei Chega, die sich in der portugiesischen Parteienlandschaft etabliert hat, zu einer Gegendemonstration auf. Ein Parteimitglied wurde mit dem Ausspruch «Einer weniger, der den (linken) Bloco wählt», zitiert. Die Rechte ist, wie überall in Europa, auch in Portugal auf dem Vormarsch.
Vor diesem Hintergrund sahen wir uns vor allem die portugiesischen Beiträge zur doclisboa an. Welches Bild der Welt zeigen sie, fünfzig Jahre nach der Nelkenrevolution und dem Ende als Kolonialmacht? Als aufmerksame Beobachter des nachrevolutionären Portugals ist der Übergang zwischen Film und Straße für uns nahtlos, alles ist Gegenwart.
Der Eröffnungsfilm der doclisboa, Sempre, feiert die Nelkenrevolution von 1974 als Beginn des modernen, demokratischen Portugals. Die italienische Regisseurin Luciana Fina, die seit langem in Portugal lebt, hat in der Cinemateca in Lissabon historische Aufnahmen aufgespürt und in einzelne Kapitel gegliedert. Der Film beginnt mit einem Rückblick auf die Diktatur mit ihrem Geheimdienst PIDE und zeigt die Ähnlichkeit des faschistischen Portugals mit dem Italien Mussolinis. Es folgen bewegte und bewegende Bilder vom Putsch in Lissabon, vom Abzug aus den Kolonien, den nachrevolutionären Turbulenzen im Jahr 1975, der Agrarreform, den Schulreformen, der veränderten Stellung der Frau und dem Wohnungsbau. Die Ausschnitte betonen die zentrale Rolle der Medien – diese Revolution war in vielerlei Hinsicht tatsächlich «televised». Wer mit der medialen Aufarbeitung dieser Zeit vertraut ist, dem begegnet hier wenig Neues. Nur die Tonspur sorgt für Irritationen: Die historischen Bilder werden mit der Geräuschkulisse aus heutigen Kämpfen für Klima-, Hochschul- oder Wohnungspolitik unterlegt. Wir sahen den Film vor der Ermordung von Odair Munoz und fragten uns, ob der Anschluss an die heutigen Proteste wirklich funktioniert oder ob die Parallelen nicht zu konstruiert sind, wenn die Klimabewegung «climate, climate» ruft, während in den historischen Aufnahmen Menschen Nelken in die Gewehrläufe der Putschisten stecken. Nach dem Vorfall in Couva da Moura bekommt diese Montage allerdings eine andere Konnotation, wir sehen, wie gefährdet dieser so spektakuläre und symbolhafte Aufbruch in die Demokratie ist, und wie wichtig die Bewegung von der Straße her ist. Das hat viel mit der Kolonialvergangenheit Portugals zu tun, unter die zwar 1974 ein radikaler Schlussstrich gezogen wurde, die aber bis in die Gegenwart ihre Schatten wirft.
Der zweite Hauptfilm ist eine Dokumentation aus der ehemaligen portugiesischen Kolonie Guinea: Por ti, Portugal, eu juro (Für Dich, Portugal, schwöre ich) von Sofia Palma Rodrigues und Diogo Cardoso. In langen Einstellungen, vor einer weißen Hauswand sitzend, erzählen vier alte Guineer ihre tragischen Geschichten. Sie wurden als junge Männer von den Kolonialherren als Soldaten zwangsrekrutiert, um gegen die Guerilla im eigenen Land zu kämpfen. «Ich dachte, wir sind jetzt Portugiesen», sagt einer von ihnen. Sie kämpften in einem mörderischen Krieg auf der falschen Seite. «A mata è guerra», im Buschland herrscht Krieg. So packt der Film die Erzählungen in einzelne Kapitel und führt die Betrachter tief ins Herz des kolonialen Alptraums. Mit der Revolution verließen die Portugiesen fluchtartig das Land, ließen die afrikanischen Soldaten ohne Schutz zurück, mit dem leeren Versprechen, dass sie aus Portugal eine Rente erhalten würden – die natürlich nie eintraf. Heute sind sie alte Männer, die in den langen Erzählungen vom Drill, vom Töten, von erlittener Haft nach der Unabhängigkeit, der Beschämung durch die eigenen Landsleute und der Folter erzählen, die sie erleiden mussten. Historische Aufnahmen werden eingeblendet, doch die meiste Zeit hält die Kamera unbeweglich auf die zerfurchten Gesichter. Wie es ihnen heute gehe, lautete die Schlussfrage. Der Mann weist mit dem Daumen auf sein ärmliches Haus hinter ihm und fragt zurück: Wollten Sie so leben?
Der Beitrag Estou aqui (Hier bin ich) von ZsófiaPaczolay und Dorian Riviére spielt in einer während Covid zur Obdachlosenunterkunft umgestalteten Sporthalle in Lissabon. Dokumentiert wird eine von der Ärztin Teresa ins Leben gerufene Initiative, die den Menschen «sem abrigo», ohne Dach über dem Kopf, unterschiedslos ein solches anboten. Unterschiedslos, das heißt, auch wer Alkohol, Waffen oder Drogen in die Halle schmuggelte und erwischt wurde, durfte bleiben. Andernfalls, so die Ärztin, wären sie ja wieder allein und auf sich gestellt, dort draußen. Wie filmt man so etwas, ohne die Würde der Menschen zu verletzen? Einmal wird kurz ein Tagebucheintrag eines Bewohners vorgelesen: «Nun werden wir auch noch gefilmt, welche Demütigungen müssen wir noch erleiden?» Die Dokumentation beschränkt sich auf einige wenige Protagonisten, im Mittelpunkt stehen ein krebskranker Mann und ein Mann namens Tiago. Letzterer bekommt eine Wohnung nahe dem Castelo angeboten, wo er die Selbständigkeit erproben kann, was das Ziel der Initiative ist. Doch Tiago kommt täglich zurück und hilft in der Unterkunft aus, mit dem Alleinsein kommt er nicht zurecht. Am Ende der Filmvorführung tritt er mit dem Filmteam, der Ärztin und den Betreuern vor das Publikum, das Experiment ist geglückt. Die Initiative selbst erhielt nach einem Jahr keine Gelder mehr, die Halle wurde geschlossen. Was bleibt ist der Film, der eine widerständige Liberalität und Offenheit zeigt, wie sie in manchen Bereichen des öffentlichen Lebens in Portugal anzutreffen ist.
Was die Ärztin in dem einen Film ausmacht, verkörpert die Abgeordnete Helena Roseta in einem groß angekündigten Dokumentarfilm über das Parlament, O Palácio de Cidadãos. Rui Pires begleitete die Arbeit in der Versammlung der Republik über ein Jahr. Zu Beginn werden die Tore des ehrwürdigen Parlamentsgebäudes für die Bevölkerung geöffnet, der Parlamentspräsident empfängt die Bürger mit den Worten: «Das ist euer Haus». Gemälde und Urkunden, Gesetzestexte, Kunstwerke und lange Gänge. Der Blick wendet sich dem Personal zu, das die Demokratie am Laufen hält: ohne Stenographie, Abtippen, Drucken, Veröffentlichen wüsste das Volk nichts von den Entscheidungen im Parlament. Der Film verfolgt mehrere Fälle im Laufe des Jahres, darunter das sehr portugiesische Problem der habitaçāo: Das Recht auf Wohnraum soll im Gesetz verankert werden, die Kamera folgt Helena Roseta in die Ausschüsse und ins Parlament, sie kämpft sich durch Akten, redet, argumentiert und klatscht am Ende Beifall, als das gewünschte Gesetz vor der Öffentlichkeit verkündet wird. Die Demokratie funktioniert. Nur einmal sieht man in der Totale des Innenraums die Regierungsbank, in der Mitte erkennen wir den damaligen Ministerpräsidenten Costa, der nach seinem Rücktritt inzwischen EU-Ratspräsident geworden ist. Wie ist er dort gelandet? Wir fragen unsere portugiesischen Bekannten nach dem Skandal, der ihn zum Rücktritt bewegte: Wie so oft weiß niemand, was eigentlich vorgefallen ist, aufgeklärt wurde nichts. Einer der vielen Skandale, die im Sand verlaufen, wie zuvor beim ehemaligen Ministerpräsidenten Socrates, der angeblich Millionensummer kassierte, ohne dass es je Aufklärung oder Akteneinsicht gab. Das alles kommt nicht vor im Hochglanzfilm zur Feier der portugiesischen Demokratie und damit auch der Nelkenrevolution. Aber es gibt sie, die Demokratie, und das ist wichtig.
Wie existentiell gefährdet Demokratie permanent ist, erzählt Lula von Oliver Stone, ein propagandistisches Heldenepos mit Stone als selbstverliebtem Interviewer. Im Zentrum des Films steht «lava jato» (Operation Autowäsche), ein Fall von Korruption, die, und das ist dem Film hoch anzurechnen, in ihren Verstrickungen um Lula und Bolsonaro mit einem Quäntchen Trump einsichtig erklärt wird. Brasilien kommt einem hier vor wie ein Portugal auf Speed, mit all seiner Korruption, seinen Skandalen und Affären, die vor aller Augen passieren und letztlich doch nie aufgeklärt werden. Brasilianisch hört man übrigens in Lissabon überall, sie gehören inzwischen zur zahlungskräftigen Haupteinwanderergruppe. Die Altstadt ist zudem überschwemmt von Kreuzfahrttouristen, die Wohnungen sind in AirBnBs umgewandelt, und in den Cafés trifft man digital nomads, die auf den Spuren von Panda Bear und Madonna nach Lissabon gezogen sind. Letzte Woche kamen noch Prinz Harry und seine Frau Meghan dazu, die einen angemessen royalen Palast erstanden haben.
Zeitgemäß sensorisch orientierten Dokumentarfilm zeigt A Queda do Ceu (Der Sturz des Himmels, von Eryk Rocha und Gabriela Carneiro da Cunha), der parallel zur gleichnamigen Autobiografie von Davi Kopenawa erscheint. Buch und Film stellen sein Leben als Aktivist und Schamane vor und berichten über seinen Kampf für die bedrohten Rechte der Yanomami und aller indigenen Völker. Ein Todesritual der Yanomami steht im Mittelpunkt, über zwei Stunden werden ähnlich wie in indigenen Filmen mit langen Einstellungen Vorbereitungen, Tänze und Choreografien tranceartiger Kreistänzer bildlich eingefangen. Drogen werden in die Nase gepustet, schamanische Kontakte mit der Anderswelt aufgenommen, es wird in die Zukunft gesehen. Der Sound aus dem Dolby Surround System ist spektakulär, die Gesichter und Körper sind es ebenso. All dies findet vor einer Kulisse der permanenten Bedrohung durch Garimpeiros, der illegalen Goldsucher, statt. Und zwischendurch erhält der Schamane über Transistoren Neuigkeiten von befreundeten Stammesgruppen – und fragt sich, ob es für ihn einen Nachfolger geben wird, denn die Yanomami gibt es nur solange, wie es Schamanen gibt. Dieser Film blickt auf unversöhnliche Weise zurück: Die Yanomami sind das Andere. Können wir dem in der Trance begegnen? Sind der Soundtrack des Films, die Körperlichkeit der Bilder ein Zugang, das permanente Rufen, Schreien, Trommeln, Gerede? Auf jeden Fall folgt Erschöpfung.
Einen anderen Blick auf das Gefühl allgegenwärtiger Bedrohung und Unsicherheit wirft die Schweizerin Nicole Vögele in The landscape and the fury. In sehr langen Kameraeinstellungen blickt sie auf die Grenzlandschaft zwischen Bosnien und Kroatien und wartet, dass sich etwas bewegt. Eine kleine Gruppe Menschen auf einem langen Weg. Es sind afghanische Flüchtlinge, die immer wieder illegal nach Kroatien zurück gepusht werden, bis ihnen nach zahllosen Versuchen die Flucht endlich gelingt. Der Film ist überlang, die Einstellungen sind es auch. Man ist versucht mitzuzählen: eine Minute, zwei Minuten, ohne dass sich die Kamera bewegt. Die Flucht der Menschen führt durch eine Landschaft, die nur wenige Jahre zuvor Schauplatz des Balkankriegs war. Alles dauert, das Zeitgefühl gleicht sich der Landschaft an, die Landschaft ist der stumme Zeuge von Kriegen und Flüchtlingen, von Wut, Gewalt, Qual und Leiden, von Menschen, die kommen und gehen. In der Diskussion nach dem Film sagt die Regisseurin, die zudem Journalistin ist, sie habe sich gefragt, ob sich die Bäume alle diese Schicksale merken würden. Es ist eine zutiefst europäische Landschaft, die im Mittelpunkt dieser außergewöhnlichen Dokumentation steht. Die Handlung findet in und mit der Landschaft statt, die Landschaft ist nicht nur Kulisse, sondern sie ist Teil des Dramas, das in diesem verlorenen Teil der Welt aufgeführt wird.
Die Retrospektive des Filmfestivals war dem mexikanischen Regisseurs Paul Leduc gewidmet. In einer langen Dokumentation von 1976, Ethnocidio. Notas sobre la región del Mezquital Ethnocide erzählt Paul Leduc das Schicksal der Otami, eines Volkes ohne Land und ohne Staat. Die Protagonisten sind im kargen Buschland in der heißen Sonne aufgestellt. Einzelne Männer und Frauen treten auf und erzählen die Geschichte von Unterdrückung und Landlosigkeit, und der Film folgt ihnen auf ihrer Wanderung in die USA. Die formale Strenge, der brechtsche Ansatz und die Anklage gegen den Kapitalismus stehen im Zentrum dieses Films, der in exakt dem Land endet, wo Trump nun zum wiederholten Male an der Macht ist und plant, alle illegalen Einwanderer zu deportieren. Leduc gliedert seinen Film nach Kapiteln, die Vernichtung einer Lebensform wird alphabetisch durchbuchstabiert. Unsere portugiesische Bekannte schenkt uns ein T-shirt, auf dem die Errungenschaften der Nelkenrevolution detailliert aufgezählt werden, sie betreffen alle Lebensbereiche. Sie hat sie als Schülerin miterlebt, und als deutsche Gäste sind wir manchmal neidisch auf eine solche Ursprungserzählung.