filmkritik

30. November 2020

Wolken ziehen vorüber Die Zeitschrift FILMKRITIK vor 50 Jahren (26): Heft 11 1970

Von Bert Rebhandl

Aus dem November-Heft der Filmkritik 1970 will ich vier Sätze herausgreifen. Der erste ist von Wolf-Eckart Bühler:

«Gerne hätte ich etwas geschrieben über den wunderschönen letzten Film von George Cukor, Alexandria (Justine). Aber das ging leider nicht, ich habe ihn nur einmal sehen können – und kurz darauf bin ich auf dem Weg nach Tanger gewesen.»

Das ist mehr als nur als ein bisschen kokett, eine Filmkritik in einem Wort («wunderschön»), die sich im selben Atemzug selbst dementiert durch eine Abreise an einen klassischen Sehnsuchtsort. Unmöglich wird dadurch ein Text, der aus mehr als dieser Andeutung bestünde, der dann aber auch ein zweites Sehen erforderlich machen würde. Ein herkömmlicher Text, den Bühler durch eine fortkömmliche Andeutung ersetzt. Ähnlich geht er mit Cheyenne Autumn von John Ford um, in dem der deutsche Verleih offensichtlich ziemlich «herumgehickhackt» hat: «Vor einem Café sitzen und denken was schön ist und Schönes denken. Sitzen und gucken. Einfach so dasitzen und sehen, was um einen herum ist. Den Stimmen am Nebentisch lauschen. Eine Zigarette anzünden. Die Wolken vorbeiziehen sehen. Tief ausatmen. Blau. xxxxxxx. Totale: weiter, endlos weiter Raum, langgezogene Wolken, die tief am Rande des Himmels dahintreiben, Ben Johnson, ganz klein, jagt über einen Hügelkamm ...» Für diese Form der Filmkritik muss man vielleicht wirklich Raucher sein. Michael Althen wusste davon noch viel.

Der zweite Satz ist von Alf Brustellin: Er beschreibt Fred Astaire als

«so etwas Weiches, das keine Trümmer hinterläßt, fast spurenlos existiert, in Großaufnahmen nicht erklärt werden kann, lange Einstellungen braucht, die Tricks alle selbst schon mitgebracht hat vor die Kamera, auch die Bewegungen, alles, was man nur filmen kann, wenn man es ganz läßt.»

Das trifft in wenigen Strichen (dem Text sind tatsächlich auch Zeichnungen beigegeben) nicht einfach nur einen ungewöhnlichen Schauspieler, sondern eine ganze Ära der analogen Filmkunst, in der Räume und Körper noch in Beziehung zueinander standen, und sich daraus auch Einstellungen ergaben, die nicht willkürlich sein konnten, sondern von der Elastizität eines tanzenden Stars ihre Form bekamen. Also ein kinematographisches Ganzes, in dem Astaire sich bewegt, indem er nicht mit dem Kopf gegen die Wand prallt, sondern diese vertikale Wand zu seiner neuen Existenzgrundlage macht. Was bewegt sich in diesem Moment: die Kamera oder der Raum? Darüber könnte man eine Ontologie des Sehens schreiben.

Der dritte Satz stammt von Jörg-Peter Feurich. Er schreibt über Zabriskie Point von Antonioni:

«Das visuelle Ereignis USA spiegelt Antonionis Film als eine Welt der optischen Formeln, die der Vermutung entgegenkommen, ihre Entzifferung müsse schließlich auch die Wahrheit über die Verhältnisse offenbaren.»

Hier sehe ich noch einmal in einer perfekten Verdichtung das ganze Projekt der Generation, die sich in den Heften der Filmkritik seit 1968 allmählich aus den Fesseln der Ideologiekritik zu lösen beginnt. Dass die USA ein «visuelles Ereignis» sind, wird der Generation Road Movie gerade erst klar, ist aber gleichzeitig schon in den Generalverdacht aufgehoben, dass dieses Ereignis (hinter optischen Formeln) zunehmend unerreichbar wird. Antonioni als Europäer wird für eine Spiegelung reklamiert, die offen ist auf eine Entzifferung, in der sich die Wahrheit über die Verhältnisse offenbar. Diese Wahrheit ist aber zugleich Voraussetzung der argumentativen Bewegung: dass es in den USA nichts zu sehen gibt (außer Formeln). Anders gesagt: gerade weil die USA ein visuelles Ereignis sind, wird man ihnen in Bildern, die keine Formeln sind, nicht gerecht. Und damals war erst in Anfängen zu erkennen, dass die USA auch schon dazu übergingen, das Ereignis, für das sie sich halten, (audio)visuell zu produzieren.

Den vierten Satz schreibt Dietrich Kuhlbrodt in einem Text über Klaus Wyborny.

«inzwischen gibt es in Hamburg das Toulouse-Lautrec-Institut (in der Brüderstraße), teils Kneipe, teils Mystifikation und somit dafür geeignet, die Glanzzeit Toulouse-Lautrecs als Fußballfotograf der späten zwanziger Jahre zu untersuchen und gegebenenfalls zu würdigen.»

Um einen Ort, der teils Kneipe, teils Mystifikation ist, würde ich gern wissen, um ihn dann nicht aufzusuchen, sondern mir vorzustellen, wie der Fußball in den zwanziger Jahren, als er noch kein visuelles Ereignis, sondern ein Sport, war, wohl ausgesehen haben mag.