filmkritik

30. April 2020

Quark mit Honig Die Zeitschrift FILMKRITIK vor fünfzig Jahren (19): Heft 04 1970

Von Bert Rebhandl

Die Reisen von Siegfried Schober, von denen in diesem Heft die Rede ist, deuten zum ersten Mal auf das klimaverwandelnde Kulturleben hin, das damals wohl in etwa begann: In Amsterdam, «in einem riesengroßen Cinerama-Kino», sieht er Verschollen im Weltraum (Marooned) von John Sturges, in New York lernt er eine neue (Film-)Zeitschrift kennen, sie heißt inter/VIEW und kommt aus der Factory von Warhol. Auf dem Rückflug aus Amsterdam (oder genauer: bei der Erinnerung daran) ist Schober vielleicht ein wenig müde, denn ihn begleitet ein sehr offenherziges Begehren: «Im Flugzeug kamen mir immer wieder Bilder von Anne Wiazemsky. Photo von Anne Wiazemsky, Quark mit Honig essend.» Er hatte sie in Marco Ferreris Il seme del’uomo gesehen. Den Kritischen Kalender, für den Schober in diesem Heft zuständig ist, beendet er mit einer Utopie: «Die Filmkritik der Zukunft: Über die Filme schreiben, die wirklich gelaufen (sic), nicht irgendwo, sondern beim Zuschauer.» Die vielfliegende (derzeit gegroundete) Filmbranche hat das vielleicht anders eingelöst, als er das ahnen konnte: zwischen Zeitzonen und Passkontrollen «kommen» uns immer wieder Bilder oder innere Filme, die es schließlich irgendwann durch die Selbstzensur in Texte schaffen, oder aber der freimütigste der 1970er-Filmkritiker hat das ganz bewusst so hingeschrieben.

Margita Gürtler, von der ich hier zum ersten Mal einen Text lese, beschäftigt sich ausführlich mit dem Cine latinamericano, und traut ihm eine Menge zu: «wenn sie in die Zukunft schauen, sehen sie den neuen Menschen». Sie bringt auch eine sehr klare Definition des «dritten Kinos»: «Nach der Einteilung, die in Lateinamerika beliebt ist und die den Konsum- oder kommerziellen Film ersten Film nennt, den Autoren- oder Kunstfilm zweiten Film und den ideologischen, den angestrebten und in Cuba schon verwirklichten, dritten Film.» Ganz klar ist nicht, ob sie die Filme aus Kuba nicht ein bisschen zu sehr von der theoretischen Voraussetzung her sieht: «In Cuba ist der Kampf schon vorbei, die Revolution ist schon gemacht.» Das führt dazu, dass «die Cubaner aus dem Vollen schöpfen, wo die anderen rätseln, sparen, stückeln, basteln». Mit diesen «anderen» meint sie wohl auch den Brasilianer Glauber Rocha, der nach ihrem Dreistadiengesetz «zweite» und nicht schon «dritte» Filme macht. Für Kuba nennt Gürtler letztlich nur zwei Beispiele für verwirklichte «authentische» (den Begriff schreibt sie Che Guevara) zu: Memorias del Subdesarrollo von Thomas Gutierrez A. (Alea) und Lucia (von Humberto Solás, dessen Name nicht genannt wird).

Die schon «gemachte» Revolution in Kuba ist in Topaz von Alfred Hitchcock noch so jung, dass sie Raketen aus der Sowjetunion zu ihrer Absicherung zu brauchen meint. Die Nähe des karibischen Inselstaats zu den Vereinigten Staaten bringt es dann auch mit sich, «daß Fidel Castro und Che Guevara in einem amerikanischen Agentenfilm mitmachen» (Wim Wenders). Hitchcock hat tatsächlich Material von einer kubanischen Massenveranstaltung in seinen Film hineingeschnitten, wie auch eine sowjetische Militärparade. Enno Patalas schreibt (in einem Text, für den Frieda Grafe das Exposé geschrieben hat, wie es heißt), «daß Topas jenem Stammtischbegriff des Politischen ans Leder geht, dessen blinde Reproduktion Z ebenso wie das deutsche Fernsehen, Der Spiegel und die Wochenschauen darstellen.» Ist das noch hartnäckige Politik der Autoren, für die Hitchcock zu einem mittelmäßigen Film nicht in der Lage ist, oder ist Topaz tatsächlich so deutlich klüger als der Film von Costa-Gavras, gegen den die Wut noch immer nicht verraucht ist? Patalas liest eine Agentenhandlung, die mir doch hölzern vorkam, so: «Keiner der vielen Figuren von Topas wird widerspruchslos erlaubt, eine bestimmte Ordnung ungebrochen als die ihr gemäße zu erleben.» Bemerkenswert ist jedenfalls, wie er eine Nebenfigur charakterisiert, die ich in ihrem Bedeutungsreichtum fast übersehen hatte: «Dubois, der Blumenstecker von der Insel Martinique, der Franzose aber nicht Europäer, Schwarzer aber nicht Afrikaner, Newyorker aber kein Bürger der VS, weder Ibero- noch Anglo- und doch Amerikaner.» Dubois mit den vielen Presseausweisen. Der weiße Musterfranzose weist ihm den naheliegenden zu: Ebony statt Playboy. Das ist vielleicht auch die besten Szene des Films, oder insgesamt der Teil, der in Harlem spielt.

Helmut Färber steuert zu diesem Heft einen Text über ein Buch bei, das sich als frühes (gedrucktes) Kino sehen lässt: Gustave Dorés Geschichte des Heiligen Rußland. Von Doré habe ich einmal eine Prachtbibel besessen. Färber bescheinigt dem rastlosen Arbeiter eine «Sucht zu enzyklopädischer, fast schon industriehafter Produktion», und schlägt dann eine kühne Brücke vom 19. ins 20. Jahrhundert: «Es gibt Zeiten, in denen gewisse entscheidende Entdeckungen nur macht, wer so geschwind und unordentlich denken kann wie Doré, Godard und Vlado Kristl, oder so viele Leute für sich arbeiten lassen wie Walt Disney.» Soweit ich sehen kann, ist die Geschichte des heiligen Rußland in der von Helmut Färber empfohlenen Ausgabe aus dem Verlag F.W. Hendel antiquarisch nicht zu kriegen. Ich habe stattdessen die Ausgabe aus dem Bertelsmann Kunstverlag von anno 1970 bestellt.