filmkritik

28. Februar 2021

Der Eifer des Eisbrechers Die Zeitschrift FILMKRITIK vor 50 Jahren (29): Heft 02 1971

Von Bert Rebhandl

Im Tagebuch eine Notiz von einem, wie wir wissen, folgenreichen Beschluss: Die Freunde der Deutschen Kinemathek haben das Angebot der Berlinale angenommen, ein Forum des jungen Films zu veranstalten. Der Etat von 300000 Mark reicht nur für acht Tage Programm, die Berlinale dauert zwölf. Die Freunde können das Programm in eigener Verantwortung zusammenstellen.

In Stockholm eröffnet ein Kino mit drei Sälen: das Grand 1-2-3 ist ein «Drillingskino», eine Bezeichnung, die sich auf die manchmal 20 und mehr Säle heutiger Multiplexe nicht adaptieren lässt.

Rudolf Wipperfürth berichtet in der Serie Filmarbeit in der Provinz aus Lindau (nicht am, sondern) im Bodensee. Weil ein Studentenpfarrer, der davor die Filmarbeit gemacht hatte, nach München ging, fiel diese an einen Cineasten. Er zeigt Filme wie Come Back, Africa von Lionel Rogosin. Für 1970 betrug der Etat 1200 Mark, also rund ein dreihundertstel der Summe für acht Tage Forum in Berlin. Durch eine großzügige Spende der internationalen Spielbank konnte auch Eika Katappa von Werner Schroeter gezeigt werden. Das klingt ein wenig, als wäre Lindau das alemanische Macau.

Die Filmkritik ist personell (freiberuflich) stark mit den damaligen Feuilletons verbunden. Nun sollen Frieda Grafe und Enno Patalas, wie ihnen Wolf Donner namens der Feuilleton-Redaktion der Zeit mitteilt, dort nicht mehr die Filmtips schreiben, weil sie die Aufgabe, «dem Leser ein paar solide, möglichst neutrale Informationen an die Hand (zu) geben» nicht erfüllen oder auch kritisch übererfüllen. Sie sprengen das Format, könnte man auch sagen. Nachfolger von Grafe und Patalas wird Siegfried Schober, der einen Monat davor schon als Streikbrecher in den Kämpfen der Filmfreien bei der SZ für ein höheres Zeilenhonorar aufgefallen war. Ich habe gleich nach hinten geblättert, dort stand Schober aber weiterhin als Mitglied der Filmkritiker Kooperative, man hätte vermuten können, er hätte sich bei dieser schon unmöglich gemacht. Weiter suchend, wie es mit Schober weiterging, stieß ich auf einen Text von Maxim Biller aus dem Jahr 2016, in dem er als (bezogen auf das Jahr 1985) «großer Filmkritiker» bezeichnet wird, der allerdings anscheinend lieber ein großer Schriftsteller gewesen wäre, was nicht gelungen zu sein scheint. Ich bin nun in erster Linie gespannt, ob Schober, der sich wohl mindestens unkollegial verhalten haben muss, in den kommenden Heften noch einmal als Autor in der Filmkritik auftaucht.

In einem der zwei filmkritischen Haupttexte würdigt Enno Patalas einen der kleinen, mexikanischen Filme von Bunuel: Der Weg, der zum Himmel führt, Originaltitel Subida al cielo. Er zitiert zuerst einmal Helmut Färber: «Vielleicht ist es Bunuel gerade in seinen kleinen Filmen in und für Mexiko gelungen, was Brecht beim Kreidekreis oder beim Puntila versucht hat: herauszukommen aus der Kunst.» 1969 war die Filmkritik in Wien gewesen, um im Filmmuseum Bunuel zu schauen, daran kann Patalas nun anschließen. Er würdigt Bunuel als Erzähler, und definiert dabei Erzählen, für mich sehr plausibel, so: «Operieren mit Elementen des Bekannten». Es geht um eine Busfahrt, auf der ein junger Mann, zwischen Hochzeit und (aufgeschobener) Hochzeitsnacht, einen Notar für die sterbende Mutter holen soll, um eine Erbschaftsangelegenheit zu regeln. Die Fahrt ist ein großartiges Durcheinander von Verzögerungen und Ablenkungen. Patalas sieht im Reisen eine «konkrete Analogie zum Erzählen ... Die Reise erfüllt das Karnevalsgesetz der Dopplung, der Umkehrung, der Symmetrie und Opposition des Verwandten.»

Im zweiten Haupttext schreibt Peter Nau über algerische Filme, die er im Arsenal gesehen hat. Er verortet das Arsenal aber zuerst einmal ausführlich in der Kinolandschaft von West-Berlin, wo es damals 106 Kinos gab. Eines beschreibt Nau so, dass ich an die «itch houses» denken musste, von denen Manny Farber in seinem Text über Underground Films schreibt, den ich jahrelang in meinen Filmkritik-Kursen an der FU mit den Studierenden gelesen habe: «Eine steile, gerade Treppe, teppichbelegt, führt zur Kasse im ersten Stock. Am Einlass ein Mann - der Geschäftsführer? -, der ein bisschen wie Oliver Hardy aussieht. Wer vormittags um elf eine Eintrittskarte löst, kann den ganzen Tag im Olympia verbringen. Der Ton ist extrem laut. Nicht um die Dauergäste im Schlaf zu stören, sondern um sich gegen ihr Schnarchen durchzusetzen, das eine massive, nachdenklich stimmende Front gegen die Filme bildet. – Eines jener sympathischen alten Action-Häuser, deren Schaukästen den Filmfreund immer noch magisch anziehen.» Von den Filmen aus dem nachrevolutionären Algerien, die Nau nennt, habe ich mir Les hors de la loi von Tewfik Fares notiert, der allerdings niemals irgendwo erschienen ist und den auch das Arsenal nicht in seinem Archiv hat.

Uwe Nettelbeck setzt unter der Überschrift Spectracolor 90 und so weiter seine Notizen zum Fernsehen fort, und vermerkt nebenbei: «Seit sechs Monaten bin ich über 30.» Mit einem prognostischen Satz hat er sich wohl eher geirrt: «Aber der Klubsessel vor dem Bildschirm ersetzt nimmer den Tribünenplatz. Daran wahrscheinlich wird die «elektronische Diktatur» schließlich scheitern.» Fußball oder Sport oder Spektakel im allgemeineren Sinn werden zwar auch weiterhin live verfolgt, haben ihren eigentlich Ort aber im Fernsehen gefunden, dessen Diktatur (zum Beispiel mit einer zunehmenden, für das Hinschauen selten hilfreichen Informatisierung des Spiels) ich über mich ergehen lasse.

Im Kritischen Kalender hat Urs Jenny ein paar gute Passagen zu Fassbinder und seinem «Eisbrechereifer»: «Manche sind darüber enttäuscht, daß Fassbinder nicht der ist, den Straub vielleicht einmal in ihm gesehen hat; daß er in der Zeit, in der Straub über einen einzigen Schnitt nachdenkt, einen fertigen Film macht. (...) Er ist im Besitz seiner Produktionsmittel, er dreht laufend Spielfilme, in denen er nichts als seine eigenen Interessen wahrnimmt, letztlich nichts als sich selbst darstellt (so daß sich jeder Film wie ein Bulletin über seine augenblickliche Stimmung und Bewusstseinslage liest), er hat sich seine Identität gemacht – das ist so entscheidend, das verschafft ihm solchen Vorsprung vor allen bloß immer auf der Suche nach ihren Interessen Herumkrebsenden, das ist so definitiv, dass es, nun ja, ganz einfach nicht erlaubt sein dürfte. Da hat sich einer selbst auf die Füße gestellt! ... Was ist ein Star? Ein wandelndes, lebendes Selbstzitat. Fassbinder ist der Star schlechthin.»

Jenny kommt dann noch auf einen Itallowestern zu sprechen, den ich mir auch zum Anschauen notiere: Hügel der blutigen Stiefel von Giuseppe Colizzi.