filmkritik

11. Juni 2021

Rituelle Aspekte Die Zeitschrift FILMKRITIK vor 50 Jahren (32): Heft 05 1971

Von Bert Rebhandl

In dieser Ausgabe klärt sich der Verbleib von Siegfried Schober, der einige Zeit ein Streitfall der Filmkritik war, nun aber schon woanders ist:

«Rudolf Thome bereitet einen neuen Film vor, Diamantendschungel, zu dem Siegfried Schober das Drehbuch schreibt. Diamantendschungel handelt von zwei Jugendlichen, einem Automechaniker und einem Rockmusiker, die von München aus einen Trip in den Dschungel von Venezuela machen, um dort nach Diamanten zu suchen. Ein Mädchen, das sie unterwegs treffen, begleitet sie. Am Ende kommt der eine Junge wegen eines Diamanten im Dschungel um, der andere heiratet das Mädchen und kehrt mit ihm zurück. Die Schauplätze des Films, der ebenso ein Liebesfilm wie ein Abenteuerfilm sein soll, sind München, Luxembourg, der Flughafen von Reykjavik, New York, der Flughafen von Miami, Caracas, El Tigre, Ciudad Bolivar am Rio Orinoco und ein wirkliches Diamantensucherlager im Dschungel zwischen dem Rio Cuchivero und im Rio Guaniamo.»

Die Schreibweise von Luxembourg sagt vielleicht mehr über damalige Vorstellungen von Exotik als die Aufzählung von eldoradischen Orten am oberen Amazonas. Weiter hinten im Heft schreibt Wolf-Eckart Bühler ausführlich über die damals bereits fertigen Filme von Thome:

«Thome-Filme reichen so weit in unser eigenes Leben hinein; sie machen hungrig nach dem, was nach dem Kino kommt und nicht Film ist.»

Das ist ein Kompliment mit einer grundlegenden Einschränkung, denn es markiert auch eine Distanz zu dem eigentlichen Kino aus Amerika, das Bühler für unerreichbar hält:

«Und selbst München gehörte uns noch viel weniger als Paris denen, die meinten, Paris gehöre ihnen. Die Utopie war zu groß für uns - zu groß, um uns selbst in Bewegung versetzen zu können: wie wir es auch anstellten, wir blieben immer nur Walter Brennan, und es gab keinen Weg, Bogey zu werden - nur Träume.»

Der Vergleich wird mit zwei anderen Schauspielerin variiert: Bei Thome «fühlen wir uns wie in Only Angels Have Wings die Jean Arthur, die furchtbar gern wäre wie Cary Grant, aber es nicht kann, so zu sein, weil sie immer überall Zusammenhänge und Bedeutungen sieht, wo gar keine sind». Mit Thomes Filmen wird es möglich, «Verhaltensweisen zu erlernen und anzunehmen und als richtig zu erkennen, die Farben, Formen, Flächen, Töne und Klänge haben und die die einzig möglichen sind, um angesichts des Todes nicht aufhören zu wollen, zu leben, nicht aufhören zu müssen, zu lieben und geliebt zu werden». Da kommt einiges zusammen, ein gestischer Widerstand gegen die Sterblichkeit, der das Filmschauen zu einem Lernprogramm macht. Thomes Helden sind nahe genug, um das Kino zu einem Möglichkeitsraum zu machen: «Wir sind nicht sie, aber wir könnten uns vorstellen, sie zu sein – und wenn es stimmt, dass das Mögliche wahrer ist als das Wirkliche, dann stimmt es auch, dass das Gegenteil davon wahr ist.»

Das Spiel mit Möglichkeit und Wirklichkeit spielt Bühler parallel mit Autos: ein roter Triumph TR 4 wird so gezeigt, «als sei er gar kein richtiges Auto», sondern ein «seltsamer Ausstellungsgegenstand». Bühler sieht bei Thome einen «utopischen Anachronismus», der sich nur unter bestimmten Umständen erschließt: «man müßte in einem bestimmten Alter sein, in München leben, am Kino Spaß haben und an dem Gedanken, selber Bilder und Filme machen zu wollen, hübsche Mädchen mögen und nicht blind sein und Gitanes rauchen und als Kind Roller gefahren sein und gerne Rum-Eis schlecken und 1,76 groß sein: um «so» über Thome schreiben und lesen zu wollen. Na und?»

Die Spannung zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit durchkreuzt Bühler mit einer intuitiven Nachahmungstheorie, die Vorbild und Abbild über München (und über Zigarettenwerbung wie über ein Kindheitsmotiv mit dem Roller) im Kreis führt, die Hollywood an der Isar greifbar (und unerreichbar) werden lässt, die den Tod nicht als Gegenteil des Lebens sieht. Ein kühner Text, der mit einer angemessen praktischen Frage endet: «Wieviel weiße Anzüge muss Evers (eine Figur in Thomes Supergirl) haben, damit er immer einen sauberen hat?» Hier stößt der Möglichkeitssinn auf konkretes Garn. Irgendetwas muss auch eine Thome-Figur immer anhaben, damit die Kinomythologie nicht nackt ist.

Aus dem Amerikanischen wird das Manifest der Anthology Film Archives übersetzt, für die Peter Kubelka ein unsichtbares Kino entworfen hat. «Die Betonung liegt hier auf dem rituellen Aspekt der Filmbetrachtung», wozu auch «unentstellte Kopien» zählen, mit denen ich später im Österreichischen Filmmuseum in Wien auch noch Bekanntschaft machte: Dreyer ohne Untertitel. «Reinheit der Bilder an die Stelle des Sinnes der Wörter», das war das Raumprogramm für ein Publikum, das durch «Blenden» respektive «Sitzhauben» vor der «Möglichkeit seitlicher Ablenkung» bewahrt werden sollte, in der Meinung, der «Gemeinschaftsgeist (wäre) am stärksten und effektivsten (...), wenn keine Störung vom Nachbarn erfolgt».

Dazu verständigte man sich in New York auf die «Konzeption eines raschen Zyklusses», dabei immer schon ein Publikum mitdenkend, das besuchsweise in die Stadt kommt, und an den Abenden dann am besten immer die Auswahl einer «polemischen Gruppe» (Peter Kubelka, Jonas Mekas, P. Adams Sitney, ... das Komitee war eine Männergruppe) anschauen sollte: «Kein anderes Filmmuseum in der Welt garantiert, daß ein Besucher die Geschichte des Mediums in so kurzer Zeit sehen kann.»

Abgedruckt wird dann auch das Programm, die Liste der Filme, die für AFA ausgewählt wurden, von In the Street (1952) bis Film Exercises 3,4,5 von John und James Whitney. Ein Kanon mit starker Betonung auf experimentellem Film, der später in Wien als Zyklisches Programm weiterentwickelt wurde, und dem Alexander Horwath beispielsweise eine Utopie Film an die Seite gestellt hat.

In Jörg Peter Feurichs Text über Francesco - Giullare di Dio (einer meiner Lieblingsfilme) tauchen Aspekte der Imitatio-Motivik bei Bühler in einem ganz anderen Kontext wieder auf: Der Film «handelt von einer absoluten Naivität fürs Gute», in Form «einer vollkommenen Genauigkeit der Bilder, die im Abbild der Legenden sich mehr und mehr verwirren, weil sie über ihre Gegenstände nicht verfügen und immer genauer zu einer Erfahrung der Bedürfnisse verhelfen, die sich in der Wahrnehmung realisieren».

Joachim von Mengershausen schreibt über einen Film, der dringend wieder zugänglich gemacht werden sollte: Dark Spring von Ingemo Engström – «ein Aggressionsobjekt ... würde dieser Film auch dann Gegenstand von Aggressionen sein, wenn es in ihm nicht vor allem um Frauen ginge ... wie genau er von dem weiß, was er darstellt, wie genau auch er dies darstellt: die Rolle der Frau mit allen Konsequenzen (...) Alles ist längst besetzt alle Bilder, Töne, Worte, Gesten, Empfindungen: die Herrschaft des Mannes total. Dass Dark Spring dies vorführt, mit äußerster Radikalität und sonst nichts, sich jeder Andeutung eine Lösung enthält, macht ihn so unwiderstehlich; dass dieser Film so empört und auch beschämt, macht deutlich, wie intakt allem Emanzipationsgerede zum Trotz das Tabu ist, mit dem die traditionellen Rollen der Geschlechter bedacht sind.»

Ungewöhnlich scharf schließlich, wie Enno Patalas die Verklärung von Disney Fantasia in dem Heft davor zurechtrückt: Er sieht in den animierten Musikstücken vor allem «Zeichen von Herrschaft», er hebt «Mickys knechtische Natur» hervor. «Das Potpourri aus Bach und Tschaikowski, Beethoven und Ponchielli simuliert Fülle und Vielfalt, dabei klingt in Stokowskis Arrangement auf dem Fantasound alles ziemlich gleich, melodisch, harmonisch, koloristisch, illustrativ, neckisch.»

Ein Zitat von Abel Gance bei Patalas lässt sich schließlich auch noch einmal auf die Tod-Leben-Möglichkeit-Wirklichkeit bei Bühler zurückbeziehen: «alle Religionen warten auf ihre belichtete Auferstehung», umkehrbar in: alle Auferstehungshoffnungen haben ihre belichtete Version im Kino.