non-fiction

19. Juni 2012

Schleierfall Lektüre: Karl May und die Fotografie

Von Bert Rebhandl

Am 5. Juli 1897 sahen sich ein paar Bürger Münchens bemüßigt, in einer Zeitung eine Anzeige zu schalten: «Herr Dr. Karl May (Old Shatterhand) der berühmte Weltreisende und Schriftsteller ist hier Hotel Trefler abgestiegen und auf unsere Bitte dort, aber nur noch vorheriger Anmeldung per Postkarte, Montag Nachmittag, 3 bis 6 Uhr, für seine Leserinnen und Leser zu sprechen.» Gezeichnet: «Mehrere seiner Verehrer.»

Diese drei Stunden an einem Nachmittag im Jahr 1897 gehören in den Zusammenhang der kurzen, aber wesentlichen Periode im Leben Karl Mays, in der er sich als der Protagonist seiner Reiseerzählungen ausgab. «Er besteht in jenen vier Jahren vor dem Jahrhundertwechsel ausdrücklich auf den Zusammenfall der beiden Körper», schreibt Rolf H. Krauss in seinem Buch Karl May und die Fotografie. Von den beiden Körpern (dem des sächsischen Schriftstellers und dem des «Weltreisenden» mit der effektvollen Kopfnuss) war einer ganz wesentlich fotografisch verfasst. May ließ sich im Ornat der Abenteuer ablichten, mit den wesentlichen Utensilien wie den beiden Feuerwaffen Bärentöter und Henrystutzen, ohne die Old Shatterhand nirgends hinritt.

Vier Annäherungen verspricht Krauss in seinem Buch, de facto sind es vier Aufsätze, die schon früher erschienen sind und hier zu einem Band zusammengefasst wurden. Der erste Text über Die Fotografie im Werk Karl Mays ist im wesentlichen eine Stellensammlung, in der zusammengefasst wird, wo im verschlungenen Werk überhaupt von dem im 19. Jahrhundert neu hinzugekommenen Medium die Rede ist.

Als eine Auskopplung aus diesem ersten Aufsatz lässt sich der zweite verstehen: Winnetous fotografische Himmelfahrt bezieht sich auf eine nun wirklich äußerst interessante Stelle im dem späten Winnetou IV, in dem May «eine kosmopolitische Friedens- und Versöhnungsutopie» (Günter Scholdt) entwarf. Dabei sollte ein Denkmal für den edlen Apachenhäuptling eine wichtige Rolle spielen, der ja in Winnetou III mit den unsterblichen Worten «Schar-lih, ich glaube an den Heiland. Winnetou ist ein Christ!» auf den Lippen das Zeitliche gesegnet hatte.

Old Shatterhand aka Karl May begibt sich in Winnetou IV an die Szene eines Indianerkongresses, der in einem Tal stattfindet, das von einem Wasserfall begrenzt wird. Ein «Geheimnis- oder Medizinensee» läuft als «Schleierfall (...) in breitester Weise über. (...) Die Linie, auf der er dies tat, war vollständig gerad und vollständig horizontal, so daß das Wasser gleichmäßig verteilt, glatt und eben, wie ein polierter Spiegel, in das Tal niederstürzte. Dieser Spiegel war gewiß fünfzig Meter hoch. Seine Glätte wurde an keinem Punkte getrübt und sein Zusammenhang um keinen Zentimeter unterbrochen. Und da er die ganze Breite des Innentals einnahm, so kann man sich wohl denken, was für einen tiefen Eindruck er machte», zumal sich passenderweise unter diesem Schleierfall die Erde just so öffnet, dass das Wasser spurlos darin verschwinden kann.

Vor dem Hintergrund dieses potentiellen Freiluftkinos soll eine «Kolossalstatue» von Winnetou errichtet werden, doch Old Shatterhand verwahrt sich gegen die Darstellung und hält einen anderen (fotografischen) Winnetou dagegen, der zufällig dem von Sascha Schneider für die symbolistischen Buchdeckel des frühen 20. Jahrhunderts entworfenen Winnetou entspricht. Von diesem Bild wird ein Diapositiv hergestellt, das dann auf den Schleierfall projiziert wird. So weicht die Monumentalstatue einem Projektionsmedium in einem Naturtheater – eine beziehungsreiche Episode, in der Winnetou endgültig vom Körper- in den Seelenzustand (sogar die Häuptlingsfeder fällt von ihm ab).

In den beiden weiteren Aufsätzen widmet Rolf H. Krauss sich den Autogrammkarten (bzw. Kabinettkarten), die Karl May im Rahmen seiner Strategien literarischer Ruhmbildung zum Einsatz brachte (während er sich umgekehrt solche Karten auch von seiner Leserschaft zuschicken ließ und daraus ein Leseralbum herstellte!), und dem Phänomen des Schriftstellers als Star.

Ein Aspekt in diesem Buch überrascht ein wenig, entspricht aber dem Stand der May-Forschung: Entgegen einer landläufig häufig geäußerten Auffassung sind die Beschreibungen bei Karl May keine gewissermaßen fotorealistischen, sondern bestehen aus Versatzstücken kulturellen Wissens und der damit einhergehenden positiven wie negativen Vorurteile. Die «Fotografie als Wahrnehmungsform» hatte, wie Krauss schreibt, keinen Einfluss aus Karl Mays Schreibtechnik. Der Erfinder des Winnetou war eben durch und durch ein Phantast, der am liebsten in den Spiegel sah.

 

Rolf H. Krauss: Karl May und die Fotografie. Vier Annäherungen, Jonas Verlag 2011, 95 Seiten, 20 Euro

Meine Lesegeschichte mit Karl May habe ich im März 2012 für den Freitag aufgeschrieben