literatur

13. Oktober 2011

Das Dorf des Deutschen Über Boualem Sansals Das Dorf des Deutschen oder Das Tagebuch der Brüder Schiller

Von Bert Rebhandl

Ein junger Mann aus einer Vorstadt von Paris schreibt einen Brief an den französischen Innenminister. Er ist besorgt über die Entwicklung in seinem Viertel. «Die Islamisten haben unsere Cité kolonisiert, und uns das Leben hart werden lassen. Es handelt sich nicht um ein Vernichtungslager, aber es ist bereits ein Konzentrationslager, wie man im Dritten Reich sagte.»

Wer so einen Vergleich riskiert, ist entweder frivol oder naiv. Doch der algerische Franzose Malrich Schiller, eine der beiden Hauptfiguren in Boualem Sansals Roman Das Dorf des Deutschen, hat ein sehr persönliches Motiv für seine exzessive Rhetorik: Er ist nämlich durch seinen Vater mit der Vernichtung der Juden verbunden, auf eine Weise, die zu erschließen eine der Geschichten dieses Buches ist. In einer durchaus spekulativen Weise wird hier ein Bogen geschlagen, der um 1940 in der deutschen Kriegswirtschaft beginnt und 1996 in einer französischen Vorstadt endet, mit Stationen in Auschwitz, Istanbul, Kairo und mehrfach Algerien. Ich musste beim Lesen immer wieder an Barbet Schroeders Film L'avocat de la terreur denken, über den Anwalt Jacques Vergès, für den der Befreiungskrieg Algeriens gegen Frankreich das historische Moment ist, von dem her sich das ganze 20. Jahrhundert in eine Logik binärer Entscheidungen aufschlüsselt: Pro FLN (Front de la Libération Nationale) ist gegen Frankreich ist pro PLO ist pro DDR ist gegen Israel ist irgendwann pro Nationalsozialismus.

Bei Boualem Sansal erschließt sich die Sache aus seiner kritischen Haltung gegenüber dem Regime in Algerien her. Die FLN ist dort seit bald einem halben Jahrhundert an der Macht, und hat die Befreiung längst an eine korrupte Technokratie verraten. 1994 überfallen (mutmaßlich) Islamisten das Dorf Ain Deb und töten dort alle Bewohner, darunter auch den gebürtigen deutschen Hans Schiller, der im Befreiungskrieg auf Seiten der FLN gekämpft hat, später die Tochter eines lokalen Scheichs geheiratet hat und schließlich selbst Scheich von Ain Deb wurde.

Seine beiden in Frankreich lebenden Söhne Rachel (Rachid Helmut) und Malrich (Malek Ulrich) Schiller sind die Erzähler in dem Roman Das Dorf des Deutschen, der die Form einer Montage zweier Tagesbücher hat: der gebildetere Rachel hinterlässt ein Journal, dem der jüngere, anfänglich völlig unvorbereitete Malrich hinterherschreibt. Rachel macht nach dem Tod seines Vaters eine Entdeckung: Er findet ein deutsches Soldbuch aus den Jahren des Zweiten Weltkriegs, und kommt schließlich zu dem unabweislichen Schluss, dass Hans Schiller an der Vernichtung der Juden beteiligt war. Er war kein prominenter Täter, aber ein wichtiger Techniker, der über viele Jahre an der «Endlösung» gearbeitet hat, und der nach 1945 untertauchen konnte. «Papa ist sehr schnell im Allerheiligsten des Schreckens angekommen, es bedurfte wohl einiger Fähigkeiten dafür», schreibt Rachel. Er fällt völlig aus seinem eigenen Leben heraus und macht es sich zur Aufgabe, nicht nur alles über die Schoa herauszufinden, sondern auch nachträglich die ungesühnten Verbrechen seines Vaters irgendwie doch noch zu sühnen – «ein Liebesakt für unseren Vater und für seine Opfer», schreibt Malrich, der Rachel schließlich in einem Zustand antrifft, den ein Psychologe vermutlich kühl als hysterische Identifikation bezeichnen würde: «Er trug einen sonderbaren Schlafanzug, einen gestreiften Schlafanzug, den ich nicht an ihm kannte, sein Kopf war kahl geschoren wie in der Strafkolonie, ganz schief und krumm.»

Mit der Perspektive von Malrich, der im Roman gewissermaßen als Redakteur des schriftlichen Nachlasses seines Bruders fungiert und seinerseits dessen und seine eigenen Aufzeichnungen einer Lehrerin übergibt, in deren Bearbeitung wir sie zu lesen bekommen, schafft Boualem Sansal etwas Rares. Er erzählt hier eine erzwungene Selbstaufklärung im Eiltempo: «Es ist dumm, das zu sagen, aber ich wusste nichts von diesem Krieg, von dieser Vernichtungssache. Oder nur vage, das, was der Imam in seinen Predigten gegen die Juden darüber sagte, und hier und da aufgeschnappte Brocken. In meinen Augen waren das Legenden, die Jahrhunderte zurückreichten. Echt, ich habe nie daran gedacht, ich habe mich durchgeschlagen, wir waren jung, zutiefst ratlose Grünschnäbel, wir kannten nur die tägliche Schinderei.»

Hier bekommt als jemand eine Stimme, der gemeinhin nicht dem Diskurs zugerechnet wird, und diese Spannung zwischen vorschneller Übertragung neuen Wissens auf gegenwärtige Verhältnisse - «Ich bereitete mich darauf vor, mich in die Verfolgung des (fundamentalistischen, BR) Imams zu stürzen, um ihm ein Hakenkreuz in die Stirn zu schneiden» – und allmählich wachsender Reflexion ist einer der größten Vorzüge dieses Buches.

 

Boualem Sansal: Das Dorf des Deutschen oder Das Tagebuch der Brüder Schiller (Merlin Verlag 2010)

Boualem Sansal wird am Sonntag, 16. Oktober 2011, mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Hier ein Interview mit dem Autor über die aktuelle Situation in den arabischen Ländern