medienbeobachtung

28. August 2019

Zukunft machen aus Vergangenheit Amerikanische Demokratie-Erzählungen

Von Sebastian Markt

 

«It happened invisible, as always.» So beginnt Thedore H. Whites 1961 erschienenes Buch. White, ehemaliger Auslandskorrespondent für mehrere Magazine und Autor zweier Reportage-Bücher über China unter Chiang Kai-shek (Thunder Out of China, 1946, zusammen mit Annalee Jacoby) und Europa im Kalten Krieg (Fire in the Ashes - Europe in Mid Century, 1953) sowie zweier Romane, setzte sich 1959 das Vorhaben den bevorstehenden Wahlkampf als Reporter zu begleiten, darüber jedoch nicht in den fokussierten und den Mikrokonjunkturen des News Cycle unterliegenden Dispatches der Tages- und Wochenpresse zu berichten, sondern die Erzählung vom Machtwechsel in der tonangebenden Demokratie der westlichen Welt auf Buchlänge zu erzählen. Whites Buch wurde zum Bestseller und trug ihm 1962 den Pulitzer Preis ein, er versuchte in den darauffolgenden Wahlkämpfen 1964, 1968 und 1972 an den Erfolg der Form anzuknüpfen. Mit dem Campaign Book begründete White jedenfalls ein eigenes Genre dokumentarischer Literatur, dessen Konjunktur immer noch anhält; Game Change von John Heilemann und Mark Halperin etwa schaffte es 2009 sowohl auf die Bestsellerlisten als auch zur HBO-Verfilmung.

Man kann The Making of the President durchaus im Kontext der frühen Formen des Literary Journalism bzw. Non-Fiction Novels lesen; Rodolfo Walshs Operación Masacre über die Ermordung einer Gruppe peronistischer Aktivist*innen in Argentinien 1956 erschien 1957 und wird, acht Jahre vor Truman Capotes In Cold Blood, oft als erstes seiner Art gehandelt. Im Hinblick auf seine erzählerischen Techniken ist Whites Buch durchaus hybride, teils romanförmige Narration, die durch geschickten Aufbau eine Spannung zu erzeugen vermag, wo längst feststeht, wie die Geschichte ausgeht, teils explikative und durchaus sendungsbewusste Analyse eines politischen Prozesses.

Der Einstieg geschieht weitgehend szenisch: Ein Waiting betitelter Prolog portraitiert in erster Linie John F. Kennedy und nur als Nebenfigur den bald unterlegenen Richard Nixon in den Stunden des Wahlabends, als die Wahllokale schließen, die Auszählung im Gang ist, das Volk gesprochen hat, aber noch niemand weiß, was es gesagt hat. Die minutiöse Schilderung des Tages, bis der Kandidat, immer noch im Ungewissen, aber zuversichtlich, gegen drei Uhr morgens ins Bett geht, ist dabei durchzogen von einer Spannung zwischen den profanen Abläufen, zwischen Fernsehen, Beratungen, Telfonaten, Sandwich- und Suppenmahlzeiten und dem historischen Gewicht, das sich untergründig vom ersten Satz weg in die Erzählung schiebt: zwischen den lapidaren Ereignissen: ein Ereignis.

Von dort geht White zurück zum Beginn des Wahlkampfs, in einem Blick hinter die Kulissen über die parteiinternen Kampagnen, zu Zeiten, als Vorwahlen nur einen möglichen Weg zur Nominierung darstellten, und alles sich letzlich erst in den Abstimmungen der Conventions  entschied, die Schilderungen der Parteitage selbst, und dann in Etappen der eigentliche Wahlkampf zwischen Kennedy und Nixon, mit einem eigenen Kapitel für die Fernsehdebatten, die auch White als mitentscheidend für den Ausgang der Wahl ansieht, die er aber auch (zusammen mit den auch damals schon im Fernsehen übertragenen Conventions) als ein Medium begreift, das ein nationales Publikum, bzw. ein nationales Wahlvolk überhaupt erst herstellt, gegenüber den ansonsten streng regionalen, und – was noch ein größeres Thema für White wird, auf spezifische, meist ethnisch kulturell verstandene Gruppen gemünzte Auftritte der Kandidaten und ihrer entsprechenden Berichterstattung. Am Ende greift White den Faden des Prologs wieder auf, erzählt die Wahlnacht (bzw. den Morgen danach) zu Ende, lässt die administrativen Planungen und Entscheidungen der Transition  wie auch die Festivitäten der Angelobung aus, und schließt mit einem Ausblick aus dem Weißen Haus.

Eine grundsätzliche Nähe zu Kennedy ist dem Text durchwegs anzumerken, Nähe, die nicht nur eine politische war: White war seit seiner Zeit in Harvard mit Kennedys älterem Bruder Joseph Patrick Jr. und der Familie bekannt, und schrieb nach JFKs Ermordung auf Ermunterung von Jackie Kennedy hin und auf einem Gespräch mit ihr basierend jenen Artikel in Life, der das Kennedy-Camelot Motiv folgenreich mythologisierte; der von Billy Cudrup in Pablo Larraíns Jackie gespielte Komposit-Charakter referiert auch auf White. Explizite auktoriale politische (und moralische) Urteile folgen in Whites Text weniger republikanisch/demokratischen Demarkationslinien – wobei für 1960 ja durchaus gilt, dass angesichts der wichtigen Blöcke rassistischer Südstaaten-Demokraten und liberaler Republikaner vor allem in den östlichen Großstädten eine Fortschrittserzählung sich nicht so ohne weiteres nach Parteigrenzen aufziehen ließ – als einer Matrix von visionär und rückwärtsgewandt, ob das nun der Korruption republikanischer Rackets oder der «bigotry» (Whites bevorzugter Terminus, der sich mit der deutschen Bigotterie nicht so recht übersetzen lässt) demokratischer Südstaatenrassisten oder der Träger anti-katholischer Ressentiments gilt.

White hält sich über weite Strecken im Hauptteil an einen summarisch erzählenden Tonfall, mit analytischen Einschüben, die ein großes erklärendes Panorama vom Funktionieren amerikanischer Politik plastisch werden lassen sollen, und gesprenkelt mit ins Pathetische reichenden, apodiktischen Aphorismen die einen amerikanischen Exzeptionalismus eher beschwören als herleiten.

Dazwischen immer wieder – wie man von heute aus formulieren könnte – Notizen zu einer Technikgeschichte der Demokratie: die ersten Hochrechnungscomputer der Fernsehanstalten, die Lochkartensysteme der Kennedy-Campaign, mit denen Wähler*innensegemente nach ethnischen Gesichtspunkten verdatet werden, die ersten Fernsehdebatten natürlich. (Schönes Detail am Rande: das desaströse Bild, dass Nixon vor allem in der ersten der vier Konfrontationen im Fernsehen abgegeben hat, führt White zum einen auf den Umstand zurück, dass dieser im Gegensatz zu Kennedy Fernsehmake-up verweigert hatte, und sein Schicksal stattdessen in die Hände eines Puders zur Kaschierung von Five-o-Clock Shadow namens Lazy Shave gelegt habe, zum anderen, in einer durchaus wagemutigen Technikexegese, dass die Verwandtschaft der Fernsehtechnik zum Röntgen beim dünnhäutigen Nixon unvorteilhafte Schädelkonturen produziert hätte, wohingegen der Kandidat, den White für durchaus gutaussehend hällt, auf Filmmaterial ein deutlich besseres Bild abgegeben hätte.) Und schließlich: das Telefon und die fernmeldetechnisch übertragene Stimme des Präsidenten als Instrument der Macht. (Im Text folgt hier eine der lakonischen Fußnoten Whites mit dem Hinweis, dass De Gaulle, der «einer anderen Tradition der Macht» entstammt, im Gegensatz zum dauertelefonierenden Kennedy derlei Apparate in seinem Arbeitszimmer verboten habe.)

Zu den literarisch interessantesten Passagen gehören jene, wo White aus dem Blick aus dem Wahlkampfflugzeug, oder dem über die Highways ziehenden Tross zu Landschaftsbeschreibungen ansetzt und diese mit sozialen Topografien im Umbruch verbindet: Die immer öfter brachliegende Industrie New Englands, die heruntergekommen Mom-and-Pop-Stores der Main Streets und die allerorten aus dem Boden schießenden Supermärkte, die sich immer weiter ausbreitenden Lichter der Suburbs, die nachts zwischen Washington und Boston kaum noch einen dunklen Landstrich lassen.

Modernen amerikanischen Präsidentschaftswahlkämpfen wohnt eine Tendenz zur Großen Erzählung der Nation inne. Die Grundform der Rhetorik von Kandidaturen folgt oft, ein wenig schematisiert, einer – eigentlich doppelten – Erzählung mit einem Strang des politischen Pathos – der Nation erzählen wer sie ist – und einem autobiografischen Strang – der Nation erzählen, wer man selbst ist –, die im Idealfall konvergieren. In konziser Klarheit findet sich diese Struktur von persönlicher Vergangenheit und nationalem Erbe, die gemeinsam in die Zukunft verweisen, in der Rede, mit der Barack Obama zwar noch nicht offiziell als Präsident kandidiert hat, aber sich als Convention Keynote Speaker dafür effektvoll ins Gespräch gebracht hatte. (Die Kandidatur(auto)biografie ist ein anderes interessantes literarisches Genre amerikanischer Wahlkämpfe, einen schönen historischen Überblick über die Gattung gibt Jill Lepore im New Yorkereine Diskussion des aktuellen Jahrgangs ebendort.)

Das gilt durchaus auch für 1960, zumindest für Kennedy und seine New Frontier Erzählung. White hält sich mit der Rhetorik der Kanidaten, sofern sie die große Linienführung des nationalen Schicksals betreffen, nicht allzulange auf, verweist aber immer wieder auf sie, bzw. attestiert er Nixon, gerade in der Unfähigkeit sich auf eine klare Erzählung festzulegen, seinen schwersten Fehler begangen zu haben, was natürlich keine rein rhetorische Frage ist, sondern etwa auch damit zu tun hat, sich anlässlich der Verhaftung von Martin Luther King am Höhepunkt des Wahlkampfs nicht zwischen schwarzen Wähler*innen im Norden und den konföderierten weißen Stimmen im Süden entscheiden zu wollen, wohingegen Kennedy durch einen PR-technisch geschickt ausgeschlachteten Anruf bei Kings Ehefrau und das Angebot, bei Notwendigkeit politisch zu intervenieren, sich eindeutig positionierte.

Die Fallhöhe für die Erzählung von Kennedys Erfolg im weiteren Sinn schafft White durch ein Set Piece, das dem zweiten, den Hauptwahlkampf behandelnden Teil des Buches vorrangestellt ist. Unter dem nicht unbescheidenen Titel «Retrospect on Yesterday's Future» schlägt White eine Schneise in die Entwicklung politischer Kultur in den Vereinigten Staaten, als der Ausgangssituation und dem Hintergrund, vor dem die Nation sich in eine neue Ära aufmacht. Bemerkbar macht sich dabei sowohl die nicht mehr zurückzudrehende Zeit der Civil-Rights-Ära, die White, weil ihm ein strukturelles Verständnis von Rassismus nicht so recht gelingt, am Ende als eine politische Aufgabe der Vermittlung fasst, zwischen den weißen Vorurteilen und Ängsten und dem brechtigten Aufbegehren der Bürgerrechtsbewegungen, die, so Whites Sicht, nicht zu trennen seien von einer schwarzen Kultur der Wut und Armut. Als auch, vor allem, die – widerum Whites Sicht – größte kulturelle Wasserscheide der amerikanischen Politik, jener zwischen Protestantismus und Katholizismus, die dann auch als größte Herausforderung erscheint, die der Katholik Kennedy zu meistern hat. Und nicht zuletzt zeichnet White das Bild einer Gesellschaft, die in ethnisch geprägte Subsegmente zerfällt, Erbe einer Einwanderungsgesellschaft und eines politischen Prozesses, der um eine Klientelpolitik ebenjener Gruppen herum gebaut ist. In Whites Chronik arbeiten zwei durchaus divergierende Tendenzen: zum einen die detailierte Rekonstruktion des mal taktisch brillianten, mal schmuddeligen machtpolitischen Geschäfts, der Blick hinter die Kulissen, Analyse von Machtzentren und Interessensgruppen; und auf der anderen Seite die Dignität einer demokratischen Wahl, in der eine Gesellschaft sich anschickt, ihre spezfischen Vergangenheiten auf eine gemeinsame Zukunft hin zu transzendieren.

«Every American Election summons the individual voter to weigh the past against the future», heißt es am Anfang des Abschnitts, «This was the past, from which both canidates departed in August to stir the emotions of America – the immediate past of growth and change, of decaying cities and swelling suburbs, of technological change and work patterns changing with them, coupled with the remote past of mother's songs and father's stories, of Negro humiliation and white fears, of hymns in churches and martyrs forgotten – all to be weighed against the future the two candidates might describe for all, a future of war and peace, of outer space and ocean depth, of schools and medical care, of bounty and disaster» am Ende. Whites Rhetorik läßt das Majestätische der demokratischen Wahl hintergründig entstehen, verbürgt zum einen durch die Integrität eines Leaders, der durch alle Taktik hindurch ein Bild der Größe abgibt, und zum anderen durch ein Wahlvolk, das in seiner Gesamtheit im Text ungreifbar bleibt, sich erst durch den Akt der Wahl selbst realisiert. Das It des ersten Satzes, das unsichtbar vonstatten geht, bezieht sich denn nicht allein auf die Entscheidung zwischen zwei Kandidaten für das höchste Amt des Staates, als Ergebnis eines nüchternen, interessens- und vorurteilsgeprägten institutionalisierten Prozesses, sondern auch als quasi-mystische Kommunion der Nation.