text und leben

Text und Leben Stipendium

Von Martin Heckmanns

Stipendium. Sonntag — Das Dorf sind 3 Straßen. Zum Wald hin oder auf die Felder. Es gibt kein Geschäft und keinen Betrieb, nur Häuser, Höfe und eine Kneipe, vor der uns die Mitarbeiterin im Schloss schon gewarnt hat. Morgens um halb 11 sitzen dort vier Männer um einen Holztisch unter der Eiche und trinken Bier. Ich wünsche einen guten Tag und bekomme ein Kopfnicken, das wohl heißen mag, Künstler kommen und gehen. Wir bleiben Bier, hier, mir, wir. Sonntagmorgen verduselt. Ich gehe die Straße bis zum Ortsausgangsschild und kehre wieder um. Das mache ich auf den drei Straßen, dann bin ich durch in 14 Minuten.

Mir fällt auf, wie viel es zu lesen gibt in Berlin, auch auf den Straßen, Werbung, Kunst, Handzettel. Hier läuft mein Blick leer, zwischen den Bäumen ergibt sich keine Schrift, sie machen keine Unterschiede für mich. An der Durchfahrtsstraße gibt es eine Tafel mit Gemeindebekanntmachungen, die neueste von vor 8 Wochen, Haus und Grundstück von Herbert Lohmann werden zwangsversteigert. Messe ist alle vier Wochen. Der Pfarrer bespielt auch die Kirchen im Umkreis. Zur Besichtigung der Dorfkirche soll man sich an die Kirchdienerin wenden, sie wohnt Am Konsum 8. Den Konsum gibt es nicht mehr.

Die Männer werden arbeitslos, die Frauen machen weiter. Durch den Gemüsegarten, beim Fensterputzen, an der Wäscheleine huschen Gestalten und ihre Haare wehen im Wind. Sie besuchen einander, bringen Äpfel vorbei oder Salat, den sie übrig haben. Alte Frauen auf Fahrrädern beherrschen das Straßenbild, tiefergelegte Kleinwagen durchschießen kurzfristig das Dorfidyll. Männer sitzen im Gartenstuhl, in der Kneipe oder auf den Holzbänken und tragen karierte Hemden zur Jeans. Und fast alle tragen einen kleinen bis phänomenalen Bauch. Die Frauen tragen Kittelschürzen in blauem oder rotem Stoff (Popelin? Plaste?), die Stoffe kariert oder mit einfachen Mustern versehen, unten ragt das nackte Bein heraus, an den Füßen Sandalen oder Clocks. Bei fülligen Frauen mit faltigen Gesichtern strahlen die Schürzen Keckheit aus, die sich zwischen den Arbeitsalltag drängt und kichert.

Nebenan kommt im VW Lupo die Frau von der häuslichen Krankenpflege, bleibt eine halbe Stunde und verschwindet. Beim Anblick des Hauses denke ich die nächsten Wochen an eine geheimnisvolle Krankheit. In der Nacht hustet es schwer.

Montag — Beim Frühstück lerne ich Thomas Brussig kennen. Sein Berlinern wirkt eher diszipliniert als lässig, als weise er damit dringend auf seine Herkunft hin, aus dem Volk, aus dem Osten, aus den goldenen 20er Jahren. Er trägt ein ärmelloses T-Shirt und zeigt mir während des Gesprächs wiederholt seine Achselhaare. Bei Affenweibchen sollen dabei Geruchsstoffe freigesetzt werden mit aphrodisierender Wirkung. Bei Thomas Brussig … weiß ich nicht, was ich davon halten soll. Ich denke an Proletkult, FKK an Ostostseestränden, Swingerclubs in Brandenburg. Ist das eine historische Linie bis unter die Arme von Thomas Brussig? Die Lesungen von ihm sollen sehr komisch sein.

Er redet von einer neuen Stimmung in der Literatur, von wichtigen Themen, mutigem Zugriff, starken Geschichten, Kontakt zum Leben und zur Leserschaft. Seine häufigste Redwendung dabei: wie soll ick sagen? Jenau, denke ich, dit is die Frage. Brussig redet aber in seinen Ausführungen nur über das was und das für wen. Und ist sich dabei ziemlich sicher. Wahrscheinlich ist das die Gefahr im Erfolg, dass man plötzlich zu wissen glaubt, was Literatur sei. Und das Schöne an der Literatur für die weniger Erfolgreichen ist, dass sie es genau entgegengesetzt versuchen können. Und vielleicht ist das dann Literatur. Schönen Tag noch, ich muss arbeiten. Gegen dich. Heimlich.

An der Dorfstraße steht ein Mercedes mit Berliner Kennzeichen. Ein älteres Paar steht davor und macht Fotos vom Schlossgarten. Barfuß auf einem zu kleinen Damenfahrrad kommt ein junger Mann vorbeigeradelt, den man für den Dorfdepp halten könnte. Das bin ich auf dem Weg zum Postkasten. Mein Netzanschluss funktioniert noch nicht, also schreibe ich Karten. Hart fällt die Pappe auf den Plastikpostkastenunterboden. Die ersten Sendungen des Wochenendes. Um 12 Uhr wird geleert.