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Never Forget Wo Kultur ist: Über Greta Gerwigs Lady Bird

Von Friederike Horstmann

© Universal Pictures | Focus Features

 

Lady Bird beginnt abrupt. Ohne viel narrative Vorbereitung eröffnet er wie ein Reisefilm, wie ein Roadmovie mit einem Phantom Ride: ein sich verjüngender Straßenzug in einer weiten Landschaft, die Kamera im Auto, ihr Blick bewegt, automobilisiert – ein schwebender, in Wandlung begriffener Blick in Fahrtrichtung. Aus dem Off erklingen Mundharmonika und die letzten Sätze aus John Steinbecks The Grapes of Wrath: «Her hand moved behind his head and supported it. Her fingers moved gently in his hair. She looked up and across the barn, and her lips came together and smiled mysteriously.» Mutter und Tochter sind unterwegs, in Bewegung, auf der Rückfahrt von einem Pre-College-Trip. Beide sind berührt von der sentimentalen Schlussszene, die Kamera kadriert sie zusammen in einem Bild, Mutter Marion auf dem Fahrerinnen-, Tochter Lady Bird auf dem Beifahrerinnensitz. Schnell weicht die gemeinsame literarische Katharsis jedoch einem Dissens, Lady Bird möchte Radio hören, ihre Mutter das Gehörte nachklingen, sich nicht permanent entertainen lassen. Der Disput eskaliert, und es mangelt ihm nicht an pointierter Schlagfertigkeit – ein Wechsel der Argumente in Schuss-Gegenschuss-Folgen. Marion rollt enerviert die Augen, Lady Birds bleiches leonardeskes Gesicht verhärtet sich, beide Stimmen werden lauter und sprechen durcheinander – es herrscht eine poröse Hysteriestimmung.

Neben Vorwürfen und Übertreibungen kreist die dysfunktionale Kommunikation vor allem um den Wunsch der Tochter, nach der katholischen Highschool das kalifornische Sacramento zu verlassen, um an irgendeiner renommierten Universität an der Ostküste zu studieren, auf jeden Fall dort hinzugehen, «where culture is». Die pragmatische Mutter verweist auf den Mangel an finanziellen Möglichkeiten wie auch auf die fehlende Arbeitsmoral ihrer Tochter. Als sie ihr weniger pragmatisch eine Karriere zwischen City College und Gefängnis prognostiziert, öffnet Lady Bird die Seitentür und lässt sich brüsk aus dem fahrenden Auto fallen. Vom Aufschrei der erschreckten Mutter schneidet der Film flott auf die Großaufnahme eines pink eingegipsten Arms. Anstelle von Blümchen und Herzchen steht darauf in Großbuchstaben: FUCK YOU MOM.

Lady Bird ist ein Film der schnellen Schnitte, ein Film mit charmanten Onelinern und zugespitzten Dialogen, dessen Szenenübergänge durch Tonbrücken geschmeidig dynamisiert werden. Wie seine pinkhaarige Protagonistin wechselt der Film rasch Register und Tonlagen, von akustisch wattierten Kitschmomenten zu rotzig exzessiven Beleidigungstiraden. Zweifelsohne enthält Lady Bird einiges, was zu einem melodramatisch grundierten Teenagerfilm dazu gehört: ein Begehren, das sich auf ein schwer erreichbares Ziel richtet, eine weibliche Heldin mit großen Gefühlen und familiären Konflikten, abrupte Intensitätswechsel und eine Affektökonomie, die durch romantischen Alternative Rock vorangetrieben wird.

Das Soloregiedebüt der Schauspielerin und Drehbuchautorin Greta Gerwig erzählt über einen Zeitraum von rund einem Jahr die zwischen Herbst 2002 und 2003 angesiedelte Geschichte der Schülerin Christine «Lady Bird» McPherson. Mit durchaus enzyklopädischem Eifer dekliniert der Film ihr letztes Highschooljahr: von Aufnahmeprüfung über Mathetest und Musicalaufführung bis hin zu Prom Night und Highschoolabschluss. Neben den Feiertagen wie Thanksgiving und Weihnachten fokussiert der Film auch Lady Birds extrakurrikulare Aktivitäten: erste amouröse Irrungen und Wirrungen, einen aufregenden ersten Kuss, ein missglücktes erstes Mal mit einer ernüchternden Prophezeiung: «You gonna have so much unspecial sex in your life.» Der Stilwille des Films, eine vergangene Zeit in wiedererkennbarer Weise nachzustellen, zeigt sich nicht nur an Lady Birds Second-Hand-Kleidung, an ihren lila lackierten Fingernägeln, ihren 90ies leather chokers und an ihrer struwweligen, pink strähnigen Grungefrisur. Poster von Riot Grrrl-Bands wie Bikini Kill und Sleater-Kinney kleben an ihrer bunten, dicht beklebten, rosa grundierten Schlafzimmerwand.

Neben Mode und Musik signalisiert Lady Bird seine historische Situiertheit durch gebastelte Schulposter und Fernsehaufnahmen. Eine infantilisierend konfettibunte Pappkartoncollage erinnert in der Schule an 9/11: «Never forget.» Im Verlauf des Films werden mehrfach TV-Ausschnitte eingeblendet, die die US-amerikanische Invasion im Irak durchaus drastisch beschreiben und Bombenanschläge zeigen. Mit Ausnahme von Lady Birds rehäugig hübschem und penetrant nonchalantem Bobo Boyfriend Kyle, der von seiner Howard Zinn-Lektüre A People’s History of the United States selten seine Augen hebt, kommentiert keine der Figuren des Films den Krieg. Doch auch er, der ein Mobiltelefonskeptiker ist und nur selbst gedrehte Zigaretten raucht («trying as much as possible not to participate in our economy»), instrumentalisiert die zivilen Opfer im Irakkrieg, um den enttäuschenden Sex zu relativieren. Auf Kyles manipulative Skalierungsstrategie reagiert Lady schlagfertig: «Different things can be sad. It’s not all war.»

Dass es sich um einen besonders angespannten politischen Moment in der jüngeren US-amerikanischen Geschichte handelt, wird vielmehr durch die Erosion der Mittelklasse deutlich: Lady Birds in Berkeley graduierter Adoptivbruder Miguel arbeitet an der Kasse in einem Supermarkt, ihr sympathischer, depressiv erkrankter Vater verliert im Laufe des Films seinen Job und ihre überarbeitete Mutter übernimmt zwei Schichten in einem psychiatrischen Krankenhaus – auch um Lady Bird den Besuch an der privaten katholischen High School zu ermöglichen. Die im Film aufgeworfenen Klassenunterschiede werden in all ihrer Scham über die eigene Herkunft freigelegt: Um den Zustand oder die Marke des familiären Autos zu kaschieren, lässt sich Lady Bird von ihrem Vater nicht direkt an der Schule absetzen, vor ihrer neuen, bold & beautiful Freundin Jenna fingiert Lady Bird, dass sie in einer eleganten, von Bäumen gesäumten Residenz in der gehobenen Fabulous Forties Neighborhood in East Sacramento wohnt. Auch ihr «given to me by me» Name Lady Bird ist nicht nur eine selbstermächtigende Geste, sondern deutet vielmehr auf ein eskapistisches Distinktionsbegehren hin, dass hier weg gewollt wird aus dem verhassten Sac, aus den verarmten mittelständischen Klassenverhältnissen und von der «wrong side of the tracks».

Lady Bird ist auch die Geschichte einer Freundschaft, einer Mädchenfreundschaft, die sich jenseits von heterosexuellen Begehrensordnungen entfaltet. Der Film zeigt Lady Bird mit ihrer chubby besten Freundin Julie bei Theaterproben, beim Shoppen und Spaziergehen, beim Essen von Kommunionswaffeln («They’re not consecrated!»), während sie mit hoch gestellten Beinen die Vorteile der Masturbation in der Dusche thematisieren. Aufgrund eines Loyalitätskonflikts treiben die Freundinnen zunächst auseinander. Später wird es Lady Bird jedoch vorziehen, nicht mit ihrem Freund Kyle und dessen unerträglich preppy friends auf einer vermeintlich cooleren Party abzuhängen, sondern mit ihrer langjährigen Freundin zur Prom zu gehen. Der Film findet hier andere Bilder, Gegenbilder zu dem hochgradig überdeterminierten Event mit all seinen heterosexuellen Privilegierungen und Normierungen. Während der großen Paar-Findungs-Bindungs-Party sind Jungs den Freundinnen ziemlich gleichgültig. Vielmehr zeigt die Kamera die beiden in zärtlicher Umarmung, wie Lady Bird ihrer Freundin süß über die Nase stupst, und sie langsam und eng umschlungen in einem kerzenwarmen Partylicht tanzen und für Erinnerungsfotos posieren. Während bewegte Lichtpunkte der Discokugel über ihre Klammerblues-Körper huschen, erklingt das sanft sehnsüchtige Crash Into Me der Dave Matthews Band: You’ve got your ball, you got your chain. Tied to me tight, tie me up again. Who’s got their claws in you my friend? Into your heart I’ll beat again. Sweet like candy to my soul. Sweet you rock and sweet you roll. Lost for you. I’m so lost, for you.»

Lady Bird weiß um die uncoole Innerlichkeit des Songs, hatte sie ihn doch zuvor im Auto vor ihrem nonkonformistischen, anarchistische Attitüden propagierenden Boyfriend Kyle verteidigt. Auch Greta Gerwigs Lady Bird scheut keine kitschigen Ausdrücke des Begehrens. Ihr Film ist eine große Hommage an Sacramento, jene Stadt, in der sie selbst aufgewachsen ist und aus der Lady Bird flüchten will. Man könnte Lady Bird einen polierenden oder gar schnulzigen Lyrizismus im Akustischen und Visuellen vorwerfen. Neben dem im Film mehrfach zu hörenden Song der Dave Matthews Band ist Alanis Morissette mit ihrer fluffig optimistischen (wie enervierenden) Selbstermächtigungshymne Hand in My Pocket prominent vertreten. Genau diese that everything’s gonna be quite alright-Mentalität wird am Ende des Films auf die Spitze getrieben, wenn Lady Bird ihrer Mutter, mit der sie lange Zeit zerstritten war, eine lovely Message auf dem Anrufbeantworter hinterlässt, in der es auch um die sentimentale Rührung während der ersten eigenen Autofahrt durch Sacramento geht. Im klavierbeklimperten Parallelmontagekitsch sehen wir mal Lady Bird, mal Marion hinterm Steuer, mal einen Blick aus dem Auto hinaus auf das kalifornische Idyll, seine Straßenzüge und Sehenswürdigkeiten, oft im goldenen Gegenlicht, das verstrahlte Reflexe auf die Linse zaubert. Man kann dieses Ende schrecklich kitschig finden oder eben zu Tränen gerührt zum Telefonhörer greifen und seine Mutter anrufen, um ihr zu sagen, dass man sie liebt. 

 

Lady Bird (Greta Gerwig) USA 2017 | Kinostart am 19. April 2018