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Das Selbst, ein Flohmarkt Über Agnès Vardas neuen Film Les plages d'Agnès

Von Kathrin Peters

© Les Films du Losange

 

Agnès Varda trägt ihr Haar zumeist dunkelrot gefärbt. Das erkennt man daran, dass sie während der Dreharbeiten zu Les plages d’Agnès, ihrer filmischen Autobiografie, die Färbung hat herauswachsen lassen. Ein Tribut an die Zeit, die vergeht, bis ein Film fertig gestellt ist, und ein Verweis auf das Altwerden, um das es in diesem Film geht. In manchen Szenen steht das dunkelrote Haar nun wie ein Kranz um den weißen Schopf der Regisseurin – oder wie eine Rahmung. Les plages d’Agnès ist ein Film, der von Erinnerungen handelt, und vor allem ist es ein Film, der sich um das Thema der Rahmung organisiert. Das nicht nur, weil häufig ganz konkret Bilderrahmen und Spiegel auftauchen, die Varda auf Flohmärkten sammelt und die für die Tätigkeit des Filmemachens selbst einzustehen scheinen. Häufig hat sie in der Post-Produktion dieses Films auch Aufnahmen so übereinander montiert, dass Bilder von anderen Bildern gerahmt werden. Entscheidender noch ist, dass die Regisseurin Varda durch Etappen ihres Lebens ein wenig so führt, als handele es sich um das einer dritten Person, um das von Agnès nämlich, wie sich die auf den Namen Arlette getaufte Varda seit ihrem 18. Lebensjahr nennt.

Les plages d’Agnès ist also keine Verfilmung eines Lebensromans, der ja immer nur deswegen kohärent sein kann, weil man sich und anderen die Geschichte schon tausendmal erzählt hat und dabei Unliebsames ebenso verschliffen hat wie, notgedrungen, Vergessenes oder gar Verdrängtes ausgelassen bleiben muss. Man hätte der mittlerweile 80jährigen ohne weiteres zugestanden, sich filmisch mit einer stimmigen Biografie auszustatten, aber die gute alte Varda widersteht dem Biografisierungsfuror und scheint eher auszuprobieren, wie sich diese Erinnerung ins Bild setzen und jenes Ereignis erzählen lässt. Erinnerungen seien wie Fliegen, die ungeordnet um einen herum schwirren, heißt es sehr schön im Film. Was in Les plages d’Agnès so umherschwirrt, sind Ausschnitte aus Vardas mittlerweile über dreißig Filmen, kurze Reenactments von Szenen, die sie erinnert, oder Rekonstruktionen von Räumen, in denen sie gelebt hat. Und immer wieder sind es Fotografien, die Varda, die zunächst zur Fotografin ausgebildet wurde und für das Théâtre National Populaire fotografierte, vor die Kamera hält. All diese Einzelstücke hat sie in eine einigermaßen chronologische Reihe gebracht, von der Kindheit bis heute. Gegenüber der Wirkungsmacht des Biografischen und der Glaubwürdigkeit der eigenen Erinnerungen bleibt sie gleichwohl immer skeptisch.

Autobiografie in Medien

Schon in Jane B. par Agnès Varda (1987), einem Film über die Schauspielerin und Freundin Jane Birkin, und in Jacquot de Nantes (1990), über den Regisseur und Ehemann Jacques Demy, hat Varda Biografisches über Schnitte und Montagen erzählt. Nun, in ihrer Autobiografie, tritt sie den ganzen Film hindurch als Moderatorin und Kommentatorin ihres eigenen Lebens auf. Wenn zum Beispiel zwei Mädchen am Strand zu sehen sind, wie sie mit altmodischen Badeanzügen bekleidet Kaufladen spielen, so wird zwar eine Kindheitserinnerung nachgestellt, aber sobald die Szene zu nostalgisch zu werden droht, tritt die Regisseurin ins Bild und sagt nur: Das ist doch alles schon so lange her. An ihre Kindheit, eine ihr zufolge allgemein überschätzte Lebensphase, kann sie sich überhaupt nur mit Hilfe alter Fotografien erinnern – oder erinnert sie die Fotos? Oder hat die Mutter ihr erzählt, was sie inzwischen für eigene Erinnerungen hält? Wer weiß das schon. Was man selbst geworden ist, hat ja immer mit dem zu tun, was man erzählt bekommen hat, was man gelesen und gesehen hat. Theoretischer formuliert: Selbstkonstitution vollzieht sich im Widerschein von Medien, seien das Tagebücher, Briefe, Fotografien, Filme oder auch Videos. Fiktion und Authentizität sind dabei niemals trennscharf zu unterscheiden, das weiß Varda genau. Und so ist es erhellend zu sehen, wie Les plages d’Agnès eine Autobiografie in und über Medien erzählt: Fragmente ihrer Lebensgeschichte findet Varda bereits in früheren ihrer Filmen eingelagert – zu ihrer eigenen Verwunderung. Sie gräbt verworfenes Footage aus (zum Beispiel ihres ersten Films La Pointe Courte, 1954), spürt ehemaligen Schauspielern und Freunden nach und übersetzt sowohl vergangene als auch gegenwärtige Fantasien in Bilder.

Als sie das Haus ihrer Kindheit in Brüssel aufsucht, steht sie ein wenig im Garten herum, keine Erinnerungsseeligkeit will sich einstellen, und so wendet sie sich dem jetzigen Bewohner, einem selbsternannten ferroviairopathe, und dessen Modelleisenbahnsammlung zu. Wie so viele Fäden, die aufgenommen und weitergestrickt werden, ist es hier Vardas Film über das Sammeln und Aufsammeln, Les glaneurs et la glaneuse (2000), der sich fortzusetzen scheint. Nicht nur thematisch, sondern auch filmtechnisch, weil Varda abermals mit der Digitalkamera unterwegs ist. Die sogenannte «grande dame» der Nouvelle Vague erweist sich hier zumindest auf der Materialebene nicht als dogmatische Cineastin, im Gegenteil, das digitale Aufzeichnen kommt ihrem Verfahren der cinécriture sehr entgegen. Cinécriture, das meint, das Drehbuch, sofern es eines gibt, nicht allzu wichtig zu nehmen, stattdessen die Szenen aus der Arbeit am Set und den Zufällen, die sich dabei ergeben, zu entwickeln und miteinander zu verfugen. Vardas Arbeit, die überaus variantenreich in den letzten Jahren auch installative Formen angenommen hat, ist ganz unmissverständlich als eine des Aufsammelns zu verstehen.

Anekdoten & Kartoffeln

Vielleicht bekommt Les plages d’Agnès erst dann ein Problem, als er die Zeit erreicht, in der Agnès Varda mit ihrem Mann Jacques Demy und den beiden Kindern in Paris lebt und zahlreiche Frauen und vor allem Männer mit heute groß klingenden Namen in ihr Leben treten. Was über Jean-Luc Godard, Alexander Calder, über Brassaï, Michel Piccoli und Nathalie Sarraute zu sagen ist, gleitet schnell ins Anekdotische ab, gerade dann, wenn es persönlich werden soll. Schon die Tonung der Fotografien und Filme spricht vom Glamour der 60er Jahre, und all die Portraits, die Varda einblendet, gehören zu sehr einem kollektiven Bildrepertoire an, als dass das Driftende einer persönlichen Suchbewegung noch zu halten wäre. Wen die alles gekannt hat! – weiter kommt man kaum mehr. Sich des Problems wohl bewusst, lässt Varda den Weggefährten Chris Marker als Katzenanimation mit Computerstimme eine Weile lang durch den Film geistern, aber der Verfremdungseffekt funktioniert nicht. So manche Symbolik wirkt naiv, zuweilen forciert, nicht zuletzt die des Strandes. Gewissermaßen als Seelenlandschaft konzipiert, muss das Strandmotiv den Film zusammenhalten. Wenn in Paris, wo es beim besten Willen keinen Strand gibt, Sand aufgeschüttet wird und Vardas Produktionsfirma zum Spiel in Badelatschen die Büroarbeit verrichtet, dann weiß man eigentlich nicht, wohin dieses Bild weisen will. Auch die Liebe zur herzförmigen Kartoffel, die in Les glaneurs et la glaneuse auftaucht und in ihrer Videoinstallation Patatutopia auf der Biennale Venedig 2003 zum objet trouvé schlechthin wird, hat einen, ja, etwas süßlichen Beigeschmack. Man kann in dieser Fundstückästhetik und der Materialisierung von Imaginationen eine surrealistische Haltung sehen, wie Varda selbst es tut. Aber hatte der Surrealismus nicht gerade auf ein Spiel mit kalten Zeichen gesetzt, auf Dinge ohne Patina, ohne jegliche Romantik?

Tatsächlich ungewöhnlich in Les plages d’Agnès sind hingegen die Überlegungen zum Altsein, das eine sale blague, ein übler Streich sei. Der Schmerz über den Tod des Lebensgefährten und das Alleinsein, das daraus erwächst, werden gegen Ende des Films sehr spürbar. Der Film ist durchzogen von der Spannung zwischen dem gefühlten Alter einerseits und dem, was sich im Blick in den Spiegel und auf die eigenen Hände zeigt. Silvia Bovenschen, die Literaturwissenschaftlerin und Schriftstellerin, hat vor kurzem in Älter werden beschrieben, wie sie gelernt habe, ihr Spiegelbild wahrnehmungstechnisch zu filtern: «Der Spiegel zeigt ein altersloses Bild – zwar nicht beschönigt, aber auch ohne Grausamkeiten. Irgendwie neutral. Als wäre es nicht das eigene. Ein technisches Sehen. Ich habe das nicht geübt. Plötzlich stellte ich fest, daß es so ist. Das erklärt den Schrecken, wenn ich mich überraschend und unvorbereitet in einem Spiegel sehen muss […]: O Gott, die alte Frau bin ja ich!» Les plages d’Agnès kreist genau darum: sich selbst zu sehen und zugleich eine andere zu sehen – und immer wieder zu werden.