medienwissenschaft

Dem Tod beim Baggern zusehen Zu Friedrich Kittlers Baggersee. Frühe Schriften aus dem Nachlass

Von Ute Holl

Los ojos de los axolotl me decían de la presencia de una vida diferente, de otra manera de mirar.

Julio Córtazar, Axolotl

 

«Baggersee», ein riskanter Titel, wenn er deutsches Denken unterstellt: Vom Rand des Baggersees her lässt sich das Mittelmeer freilich als apeiron vorstellen und alle Mädchen als Nymphen, ebenso wie nur aus den Hütten des Schwarzwalds die Götter so ent-fernt sind, dass sie schon wieder nahen. Aber auch das will vorbereitet sein. Niederrimsingen, 1962–1972, Badesee des jungen Kittler «und seiner Gefährten» (Vorwort, S. 9) – wie es sich die Herausgeberinnen so irgendwie zwischen Ithaka und St. Tropez, Odysseus und Gunther Sachs denken. Gefährten, nicht «Freunde und Genossen». Wir sind in den Sechzigern. Baden ist verboten am See in Rimsingen. Singen natürlich nicht. Ja, er hat den Sirenen gelauscht, ungebunden, ungefesselt, und von Anfang an der Überlieferung misstraut. Nostos bleibt dann nur eine Frage des Willens zum Schreiben, bedroht durch Skylla und Charybdis als von Schenken rechts und links der B 31, badischer Wein, von der Sonne verwöhnt wie das Gras der Gegend. Eine Theorie der Drogen ist dabei immer schon ausformuliert, explizit gegen jene des Alten Adorno und seiner Minima Moralia: «Keine Sucht, die bis zum Grunde nur Sehnsucht nach Natur wäre. In jeder birgt sich ein Moment des Selbstbetrugs, das dem Überleben unter kulturellen Bedingungen dienen soll.» (46) Da ist sie bereits, die Kulturkritik freier Körper, in der denaturierten Landschaft des Kaiserstuhls. Amoraliter, so groß es eben geht. Call me Azzo.

Mit Bedacht ist der Titel gewählt. Baggersee ist ein Schauplatz des Denkens, Baggern ist Kulturtechnik, anarchische Archäologie, Graben im Trüben, unter Wasser, nicht gerade kleinteilig, erstmal Tiefe herstellen, Anbaggern entsprechend Sozialtechnik. Baggersee heißt der Versuch, anders zu sehen und zu hören. Unter den Wasserspiegeln liegt ein Axolotl-Universum, Nachrichten von einem anderen Leben, «una vida diferente, de otra manera de mirar», und die allmähliche Konstruktion eines Aufschreibesystems beim Kreuzen der Diskurse. Am Baggersee werden Texte zitiert, Zitate prozessiert, Mythen gebildet, aus Literatur Erfahrungen destilliert und auf den Knien geschrieben, jenseits der Bibliotheken, zu Füßen von Mädchen, die schlau genug sind, Schreibkraft zu geben: wer kennt hier Conrads Almayer’s Folly? Klar, Azzo Kittler: «Nothing to record. Und das hab ich meiner damaligen, halbplatonischen Freundin erzählt, am Baggersee. […] Die zog einfach ihr rotes Ding runter […]. Und dann waren wir im Gespräch. Ich hatte damals noch ’nen anderen Rufnamen, und sie sagte: Nee, das machst du nicht! Such dir was Lustiges. Und dann hab ich mir den Paul Valéry rausgesucht, mit der Mademoiselle Lust.» (Interview von Christoph Weinberger mit Friedrich Kittler: Die ‹Aufschreibesysteme 1800 1900› im Rückspiegel, zitiert nach dem Typoskript). Die Sonne wird nicht nur Zeugin gewesen sein, und Kittler schon immer Fabulierer, mehr Dante als Nabokov, mehr Borges als Arno Schmidt, doch immer auch beides. Valérys Mademoiselle Lust ist ja Sekretärin, und zwar die des Universalgelehrten überhaupt. So konstruiert der Denker als junger Mann seine Schreibsituation auf eigene Faust, lenkt alle Kräfte und Vektoren – keineswegs einzigartig unter Jungautoren im Breisgau der Sechziger – zunächst mal über den eigenen Körper als Schlachtfeld der Wissenssysteme. Das entsprach völlig Frankfurter Schulung: im Augenblick des Schreibens «denkt der Denkende gar nicht, sondern macht sich zum Schauplatz geistiger Erfahrung, ohne sie aufzudröseln» («Essay als Form», in: Noten zur Literatur, S. 21). Adornos Essay zum Essay war allerdings längst nicht publiziert. Der von Max Bense schon. Aber Kittler holt sowieso weiter aus. Am Schauplatz Baggersee ist Erfahrung nicht nur geistige. Viel Zeit zum Dröseln.

Die Sammlung unveröffentlichter Texte Friedrich Kittlers, evakuiert aus einem Schubladenelement im Marbacher Literaturarchiv, alphabetisch sortiert nach den Anfangsbuchstaben der Titel, maschinengeschrieben und prä-digital, ist in vieler Hinsicht aufschlussreich. Es sind Texte eines Zwanzigjährigen, der am Ende ein Endzwanziger sein und alles Wissen bereits im Anschlag haben wird. Seine Vignetten, Fragmente, Traumprotokolle beziehen ihre Dynamik aus Psychoanalyse und Phänomenologie, aus dialektischen Wendungen ebenso wie aus den Leerstellen des Entzugs, wie sie Strukturalismus zur Disposition stellt. Verfasst ist alles mit einer Belesenheit, die erklärt, warum sie Freiburger Professoren das Fürchten lehrte. Wissen wird gewendet gegen die Unfähigkeit europäischer Bildung, ihre eigene Logik zu begreifen. Vor nichts hält das Schreiben ein, als tentatives Ethnografieren, Anthropologisieren, Mythemisieren: der Zwerg als Phallos, «aber wir wollen phänomenologisch bleiben» (207).

Keineswegs dokumentiert der Band einfach frühe Experimente eines Mastermind. Vieles ist brillant, manches präpotent, das meiste überraschend schlau, nicht nur für Studenten. Manchem aber hängen die offenen Fäden heraus, und einiges ist zum Glück auch Murks, wie jene tolle Arbeit zu, vielleicht, Sartres Blick, in der sich der Verfasser zwischen Dürrenmatt, Jane Fonda, Robbe-Grillet und Striptease hoffnungslos verfranst, ein Streber im Bordell, ganz mit Walter Benjamin. Die Texte sind ambitionierte Übungen in eigenem Stil, unnachgiebiges Heraushämmern einer Form, Sicherung eines intellektuellen Arsenals, Anspruch auf eigene Stimme im Angriff auf die damalige «Neue Linke» und auf alte kritische Theorie. Gefährten gegen Genossen, die ja in Freiburg auch fleißig baggerten am See des Besserwissens.

Kittlers frühe Fragmente und Essays rekurrieren auf Einbahnstraße und Minima Moralia, in Syntax und Form und vielfach auch im Sujet: den Blick aus dem Auto etwa, für Adorno Löschung der Erinnerung an Landschaft, unterscheidet Kittler mit Mallarmé vom Eisenbahnblick, seitwärts, als magische Inversion von Blick und Erblicktem. Adornos Kritik der Vernunft von Ehe und Eros wird pariert durch eine Reihe von Texten, die Physis als Leiblichkeit und Liebe als Kulturtechnik vergegenwärtigen, Sex als Pulsation, vermutlich unter Gefährten verhandelt. Mit der Staatsarbeit erst, ließ der späte Kittler später wissen, habe er aufgeräumt mit Adornos transzendentaler Illusion und alle reflexiven «sichs» gestrichen (Vgl. Heiseler, Flaschenpost an die Zukunft, S. 43). Mit der französischen Moderne, lesen wir in Baggersee, mit Valéry, Mallarmé und Baudelaire, wird das Symbolische als Operation ins Spiel gebracht, während Bachelard, Blanchot, Barthes und Borges Motive und Figuren des Rekursiven liefern. Diskursive Operationen verwandeln Literatur- in Medienwissenschaft. Fantastisches und Horror werden als Symptome eines Bücherphantasmas entziffert, die latente Geschichte auffliegen lassen. Das Buch als Form wird zur Grundlage okzidentaler episteme deklariert. Filme sind als Reflexionen der Kinowahrnehmung beschrieben, Hörspiele als Explorationen techno-akustischer Räume. Technisches ist dabei eben nicht determinierend: «Technisches, mag es noch so ingeniös erfunden sein […], beseitigt die Aporien der Leiblichkeit nur zum Schein. In Wahrheit bringt es sie zutage» (22). Technisches organisiert jedoch einen Verblendungszusammenhang, der sich sehr wohl aufklären ließe, als Mediales: «Medien sind Technica der zweiten Stufe, d. i. solche, die ihre Technizität nicht sowohl betonen als verstecken. Ohne den Schein solcher Unmittelbarkeit gäbe es keine Kulturindustrie.» (120) Nicht der Schein, sondern die Mittel bestimmen unsere Lage.

An der Textsammlung ist zu beobachten, wie der Schreiber oszilliert zwischen Denksystemen. Sie dokumentiert keine Genealogie eines Kittler-Universums, sondern ein Mäandern oder eben Baggern im Gedankenteich. Rekonstruiert ist die Suche nach den Augen des Axolotl. Aufschlussreich dabei, dass viele Sujets späterer Forschungen auftauchen, jedoch unter vollständig anderen Vorzeichen. Schrift spielt die entscheidende Rolle. Aber während Kittler zuletzt das Vokalalphabet und sein universelles Transkriptionspotential als Ursprung abendländischer Kultur hochhielt, konzedierte er das damals auch dem Konsonantenalphabet: «Wenn die Tora ursprünglich nicht die fixierte Abfolge von Buchstaben war, als die sie jetzt erscheint, sondern nur die bereitgestellte Totalität aller Buchstabenkombinationen, so ist aus ihr ja nicht nur – wie die Kabbala lehrt – die jetzige Tora, sondern überhaupt jede Schrift hervorgegangen bzw. jede Schrift ist Tora. So wäre eigenes Schreiben ebenso unmöglich wie legitim.» (78) Maschineschreiben exponiert diese Legitimität.

Ein Thema und seine Variation steht auffällig im Zentrum: die Sorge um den Tod. Es durchzieht die Essays zu Kultur und Bildtheorie, zu Haut und Haaren, Atmen und Rauchen, Familie und Vampirismus. Mehr oder weniger moderiert durch psychoanalytische Modelle fordert Kittler, der Student, eine Thanato-Analyse, die «den Tod an sich, nicht seine psycho-kulturelle Entstellung» (140) anerkennt. Klar ist der Verweis auf Heideggers Sein-zum-Tode: «Die Thanatologie wäre kritisch gegen die seiende Kultur gewandt und utopisch auf eine Kultur bezogen, die nicht tragischer […], sondern versöhnenderweise meléte toû thànatou, wäre» (140). Es geht aber im Heideggern nicht auf: Thanato-Analyse geriete, von den Psychosen her, «wohl auch zu einem anderen und tieferen Verständnis von Bewusstsein, das nicht mehr bloß das armselige Organ einer Anpassung an die Realität wäre, sondern jene Instanz, die, im Unterschied zum Unbewussten, den Tod weiß […]. Erst so wäre sie dann auch imstande, sich selbst zu begreifen.» (139) Das, so die Diagnose, ist grundlegend für abendländische Kultur und ihr Prinzip der Repräsentation: «Niemand kann wahrhaft ins Sterben eingeübt werden, wenn anders alle Initiation ein Moment der Stellvertretung impliziert, der eigene Tod aber schlechthin unvertretbar ist.» Der Mann Kittler, Kritiker monotheistischer Religionen, wird später an diese zentrale Stelle den Krieg setzen, der immer der Tod der anderen ist. Später wird das Bewusstsein die Innenansicht datenverarbeitender Standards heißen, Tod mit Technik vertrieben. Am Baggersee ist er noch selbst am Werk.

Die Herausgeberinnen haben das editorische Problem richtig gelöst. Baggersee ist nicht chronologisch, sondern alphabetisch eingerichtet. Das durchkreuzt die Illusion, durch akkumuliertes Wissen würden Studenten Meisterdenker. Statt linearer Philologie ist ein wüster Schauplatz vermischter Erfahrungen ausgebreitet, ästhetischer, geistiger, sexueller, und dazu allerhand submarines Zeug. An jedem Fragment muss einzeln rekonstruiert werden, ob es vor oder nach der Straßburger Begegnung mit Lacan, vor oder nach ersten Foucault-Lektüren, oder als Pamphlet gegen kritisches Theoretisieren in linken Wohngemeinschafen geschrieben ist. Wer will, kann sich erinnern an eigene Anstrengung, den Körper als Kampfplatz von Theorien und Diskursen zu erfahren, und das noch Denken zu nennen, an die Anstrengung, eine andere und ungesicherte Sicht auf die unübersichtliche Lage zu werfen. Wer will, kann lesen, wie viel im Trüben gefischt, im Kino rumort, taperecorded, konzertbesucht und getippt werden muss, bevor eine andere Form des Sehens und Hörens entdeckt wird. Klar ist, dass das Herumhängen an Baggerseen, als Denkform und Erfahrungsmodus, unerlässlich ist für Wissenschaft, die was aushält. Und dass wir alle sehr alt geworden sind, gerade die Jüngeren unter uns. Wer will, kann im Baggersee in die Augen des Axolotl schauen. Wieviel Azzo hält ein kanonisierter Kittler aus? Ajaijai, die Taten des vielgewanderten Mannes, welcher so weit geirrt. Das Fundament des Gesamtwerks ist durchlässig, zum Glück.

Friedrich Kittler: Baggersee. Frühe Schriften aus dem Nachlass (herausgegeben von Tania Hron und Sandrina Khaled), Fink 2015