gespräch/webmagazin

14. Oktober 2010

«Der Faschismus hat nie existiert» Ein Interview mit Susana de Sousa Dias

Von Chris Wahl

48

© Susana de Sousa Dias

 

Die Portugiesin Susana de Sousa Dias hat in den letzten zehn Jahren drei dokumentarische Filme über die Opfer und den Geist der portugiesischen Diktatur gedreht, die sich aus Archivmaterial und Interviews mit Zeitzeugen zusammensetzen. Damit ist sie eine der ganz wenigen FilmemacherInnen ihres Landes, die sich mit diesem Thema beschäftigen. Beeindruckend ist aber auch die formale Entwicklung, die sie dabei durchgemacht hat, von dem eher konventionellen Processo-Crime 141/53 – Enfermeiras no Estado Novo / Strafprozess 141/53 – Krankenschwestern im Estado Novo (2000) über Natureza Morta / Stillleben (2005) in der experimentellen Tradition von Yervant Gianikian und Angela Ricci Lucchi zu 48 (2009), der fast ausschließlich aus einzelnen Erkennungsfotos und den heutigen Stimmen der darauf abgebildeten Gefangenen besteht. Der Film gewann in diesem Jahr beim Festival Cinéma du Réel in Paris den großen Preis. Nun läuft er sowohl auf der Viennale als auch bei DOK Leipzig.

 


Ihr letzter Film heißt 48. Diese Zahl steht für die Zeitspanne von 48 Jahren, 1926-1974, während der Portugal unter einer faschistischen Diktatur lebte. Wie glauben Sie wird diese Zeit im Jahre 2022 – 48 Jahre nach der Nelkenrevolution, die die Diktatur beendete – von den Portugiesen erinnert werden?

Ich denke, das Bild wird reichlich diffus sein, denn in den letzten 36 Jahren konnten wir einem Prozess des Vergessens und auch des Reinwaschens beiwohnen. Es gibt einen sehr interessanten Text von Eduardo Lourenço mit dem Titel Der Faschismus hat nie existiert, der 1976 publiziert wurde, also bereits zwei Jahre nach dem Ende der Diktatur. In diesem Text geht es um die Problematik des Erinnerns und des Verdrängens. Ich habe ihn vor einigen Jahren gelesen und war verblüfft, dass Lourenço schon 1976 vorausgesehen hat, was passieren würde. In 12 Jahren, denke ich, wird es noch mehr Versuche geben, das Ansehen des Diktators wiederherzustellen und ein freundliches und damit falsches Bild der Diktatur zu zeichnen.

Und Sie versuchen, diesem Prozess etwas entgegenzusetzen?

Natürlich. In meinen Filmen arbeite ich mit Fragmenten dessen, was übrig geblieben ist – Archivbilder, mündliche Zeugnisse. Auch Bilder verstehe ich als ‹lebendiges› Material: In jedem einzelnen ist ein bestimmter Zeitpunkt eingefroren, aber ebenso ist es den vielen Zeitströmen ausgeliefert, mit denen es in Berührung kommt und die es verändern. Georges Didi-Hubermann, dessen Texte großen Einfluss auf meine Arbeit haben, sagt über die Geschichte, dass es sich bei der Vorstellung von einer aus objektiven Fakten bestehenden Vergangenheit um pure Theorie handelt. Die Fakten der Vergangenheit sind immer die Fakten des Gedächtnisses. Die Vergangenheit wird vor dem Hintergrund der Gegenwart analysiert, aber wir müssen auch verstehen, wie die Vergangenheit überhaupt zu uns gelangt. Ich suche nicht die Wahrheit dessen, was in einem bestimmten Moment der Geschichte passierte, sondern ich untersuche diese gesamte Bewegung aus der Vergangenheit in die Gegenwart, die im Gedächtnis derjenigen Personen steckt, die heute von vergangenen Ereignissen berichten, aber auch in den Bildern selbst.

Abgesehen von Ihrem Interesse für das Gedächtnis, was ist Ihre persönliche Motivation, Filme über die portugiesische Diktatur zu machen? Gibt es jemanden in Ihrer Familie, der unter der Diktatur gelitten hat?

In meiner Familie gab es den General Sousa Dias (1865-1934), der 1930 auf der Insel Madeira den ersten Aufstand gegen die Diktatur angeführt hat. Er wurde verhaftet, in Tarrafal auf den Kapverden gefangen gehalten – und zwar noch bevor der Ort zum berühmten Konzentrationslager für politische Gefangene des Regimes geworden war – und starb im Exil. Doch das ist ferne Vergangenheit, keine Erinnerung, die mir präsent wäre. Meine Motivation resultiert im Kern aus drei Begegnungen: In den 80er Jahren hatte ich an der Filmhochschule in Lissabon studiert und danach, weil ich mit dem Studium unzufrieden war, bildende Kunst an der Universität. Später, schon in den 90er Jahren, erhielt ich dann von einem Produzenten den Auftrag, für eine dokumentarische Fernsehserie über die portugiesische Filmgeschichte die Folge zum Zeitraum 1933-1945 zu drehen. Während dieser Arbeit lernte ich einen Teil des kinematographischen Kulturerbes meines Landes kennen, von dem wir in der Filmhochschule nie gesprochen haben, denn dort ging es vor allem um das portugiesische Kino ab den 60er Jahren. Es ist faszinierend, die Filmgeschichte für sich selbst und völlig befreit von akademischen Zwängen in einem Archiv zu entdecken – in meinem Fall war es das Nationalarchiv für bewegte Bilder (ANIM). Der Kontakt mit den von der Diktatur produzierten Bildern, und ich spreche nicht von Spielfilmen, war für mich wegweisend und begründete mein Interesse für den Estado Novo. Im Jahr 2000 habe ich dann Strafprozess gemacht. Krankenschwestern gehörten in der Zeit der Diktatur zum Kreis der Personen, denen es nicht erlaubt war zu heiraten. Einige wurden tatsächlich eingesperrt. Das war der Augenblick, in dem ich das Archiv der PIDE/DGS (geheime Staatspolizei) betrat, wo ich auf Erkennungsalben der politischen Gefangenen stieß. Diese Alben haben enorme Ausmaße, obwohl sich in ihnen ausschließlich Polizeifotos in Passbildgröße befinden. Gesichter. Sonst nichts. Danach entdeckte ich eine ganze Reihe von Bildern im Heeresarchiv, wo ich etwa gleichzeitig recherchierte. Im Grunde sind es diese drei Begegnungen, die mich geprägt und motiviert haben: die Begegnung mit der portugiesischen Filmgeschichte im ANIM, mit den Gesichtern der politischen Gefangenen der PIDE im Nationalarchiv Torre do Tombo und mit den Bildern aus dem Kolonialkrieg im Heeresarchiv.

 

48

© Susana de Sousa Dias

 

Einige der Fotografien, die den Film 48 ausmachen, tauchen bereits in den beiden vorigen Filmen auf. Sie haben sie bei den Recherchen zu Strafprozess entdeckt?

Ja, und ich bekam die Erlaubnis, alle Bilder zu filmen, die ich haben wollte. Als ich aber im Jahr 2003 mit den Vorbereitungen zu Stillleben begann, wollte ich noch mehr abfilmen. Ein unkomplizierter Akt, dachte ich, doch mein Ersuchen wurde abgelehnt; inzwischen hatte die Direktion des Archivs gewechselt. Bei uns brach Panik aus. Wir versuchten es noch einmal, und diesmal hieß es, wir könnten die Erlaubnis erhalten, aber nur, wenn wir die Unterschrift von jedem einzelnen Gefangenen oder, falls diese schon gestorben seien, ihre Totenscheine vorlegen könnten. Das Problem war, dass es in diesen großen Alben zwar Bilder gab, aber keine Namen, weil die auf der Rückseite standen. Man ließ uns die Fotografien aber nicht umdrehen. Andererseits gab es da noch die schriftlichen Dokumente. Die hatten aber keine Bilder. Da es nicht möglich war, an die Namen der Personen auf den Fotos heranzukommen, mussten wir unsere Perspektive grundlegend ändern. Wir haben uns also gesagt: Lass uns alle noch lebenden Personen aufsuchen, die als politisch Gefangene eingesperrt gewesen sind und sie um die Erlaubnis bitten, ihre Fotografien zu verwenden. Und so hat es funktioniert, über Freunde und Freunde von Freunden, über Historiker, die Kommunistische Partei usw.

Und hier beginnt die Geschichte von 48?

Genau. Es ist eine Sache, die Unterschrift einer Person zu bekommen. Eine andere ist es, mit ihr zu reden. Und ich habe mit einigen Leuten geredet. Während dieses Prozesses, das kann ich genau sagen, gab es drei Erkennungsbilder, die mich auf die Idee brachten, 48 zu machen: das Bild der Frau mit dem Lächeln, Maria Antónia – Ich war verblüfft, als ich es sah. Es ist definitiv kein Bild, das man in einem Film zeigen kann, ohne es zu kontextualisieren. Also konnte ich es in Stillleben nicht verwenden, der ja ein Film ohne Worte ist. Die Geschichte hinter dem Bild ist äußerst interessant. Sie erzählt vom familiären Stolz einer jungen Studentin, die festgenommen wird, aber dabei ein Gesicht macht, als habe sie gerade einen Preis gewonnen; außerdem das Bild von Conceição Matos, die einen Pullover anhat, bei dem es sich um genau das Kleidungsstück handelt, mit dem während ihrer Folterung der Boden gewischt wurde. In ihrem ganzen Gesicht spiegelt sich schon die Zeit, die sie im Gefängnis verbracht hat; und zuletzt das Bild von Manuel Pedro. Als ich mit ihm sprach, um seine Erlaubnis zu bekommen, erzählte er mir, dass die Fotografie, auf der er Haare hat, später gemacht wurde als die, auf der er eine Glatze hat. Die Glatze war also nichts anderes als eine ›Verkleidung‹. Diese drei Bilder zeigten mir deutlich, dass es da einen Film gab, der gemacht werden musste.

Ich würde behaupten, dass in einem Film die Tonspur für die Empathie des Zuschauers mit dem, was auf der Leinwand geschieht, verantwortlich ist. Deshalb sorgt der eher abstrakte als konkrete Ton in Stillleben für eine Distanz zwischen den Bildern und den Zuschauern, während 48 ein ziemlich emotionaler Film ist. Hatten Sie den Eindruck, den Schrecken der Diktatur personalisieren und konkretisieren zu müssen?

48 scheint nur aus Fotos und Stimmen zu bestehen, aber das stimmt nicht. Die Tonspur ist sehr ausgeklügelt. Und wenn dies nicht so wäre, dann wäre der Film gar kein Film, sondern ein Album. Alles zielt darauf ab, dass man die körperliche Präsenz der Leute, die sprechen, hören kann; die Töne, die niemand beachtet und die völlig zweitrangig sind, hier stehen sie im Zentrum. Ich zeige kein aktuelles Bild der Personen, weil ich sie anders präsentiere, nämlich über den Ton und über ihre hörbare physische Präsenz. Abgesehen davon hat jeder Gefangene seine Zelle, sein eigenes Tonambiente. Was ich also letztendlich in 48 gemacht habe, ist, den kinematographischen Raum über den Ton zu definieren.

In diesen Zellen hören wir eine große Bandbreite an Tönen: den Verkehr auf der Straße, eine Polizeisirene, das Ticktack einer Uhr, eine elektrische Säge. Woher kommen diese Töne? Wo haben Sie mit den Leuten gesprochen?

Als ich mit dem Film begann, dachte ich, ich müsste die Leute im Studio interviewen, um die Stimmen sauber aufnehmen zu können. Aber ein Studio ist nicht gerade der ideale Ort für so eine Art von Gespräch. Wir gingen dann zunächst direkt ins Archiv Torre do Tombo, wo sich die Fotografien befinden. Es war aber sehr laut dort, besonders wegen der unmittelbaren Nähe zum Lissabonner Flughafen. Außerdem fiel uns schnell auf, dass wir den Arbeitsablauf im Archiv behinderten. Wir haben dort also nur zwei Interviews gemacht. Dann gingen wir dazu über, die Leute zu fragen, wo sie gerne interviewt werden würden: einige wählten ihr eigenes Zuhause, andere unser Büro. Einer der Männer, die wir in Moçambique interviewt haben, trug eine Armbanduhr aus Metall, die er hin und wieder schüttelte. Zunächst dachte ich: «Ich muss ihm die Uhr wegnehmen.» Aber dann: «Nein.» Denn mit Voranschreiten des Films wurde mir klar, dass der Ton die Person charakterisiert, und – da ich nebenbei schon mit dem Schnitt begonnen hatte – dass die Geräusche absolut essentiell waren. Ab diesem Moment habe ich ihnen mehr Aufmerksamkeit gewidmet. Eines der Merkmale von Sofia, der dritten Figur, ist die Wanduhr in ihrer Wohnung, die ziemlich laut ticktack, ticktack, ticktack macht. Sie wohnt im Erdgeschoss, weshalb man auch einige Autos hört. Es sind zwar wenige, aber wenn eines vorbeifährt, dann hat es großes Gewicht. Die gesamte Tonspur wurde in diesem Sinne gearbeitet, jeder Raum wurde mit Hilfe der Töne, die in ihm wohnen, charakterisiert.

 

48

© Susana de Sousa Dias

 

In La Jetée (1962, Chris Marker) gibt es einen kurzen, aber berühmten Moment, in dem aus den isolierten Fotogrammen eine Bewegung entsteht (eine Frau im Bett öffnet ihre Augen). In 48 haben Sie auch bestimmte Arten von Bewegung erzeugt: Auf- und Abblenden, Zooms...

Ja natürlich, auch auf der visuellen Ebene haben wir viel Arbeit in den Film gesteckt. Das Bild war sogar ein großes Problem, da ich immer an ein unbewegtes Bild gedacht hatte. Aber ein unbewegtes Bild schauen Sie sich ein paar Sekunden lang an, dann haben Sie die Information entschlüsselt, verlieren das Interesse und schauen nicht mehr hin oder besser: und sehen nichts mehr. Die ganze Schwierigkeit des Films war also die: Wie schafft man es, den Zuschauer dazu zu bringen, immer auf das Bild zu schauen, es zu sehen, ohne abzuschweifen? Rosa beispielsweise, die ungefähr acht Minuten lang spricht, hat nur drei Bilder bzw. drei Einstellungen. Aber diese sind niemals unbewegt. Es handelt sich um manuell durchgeführte Kleinstbewegungen der Kamera. Ich habe die Fotos nicht eingescannt, sondern abgefilmt und dabei eine Reihe minimaler Bewegungen festgelegt. Danach, beim Schneiden, habe ich mit Zeitlupen gearbeitet. Im Grunde wurden also dieselben Prinzipien angewendet wie bei Stillleben: Zeitlupen, Ausschnittsvergrößerungen, Auf- und Abblenden.

Am Ende des Films, wenn die ehemaligen afrikanischen Häftlinge sprechen, sehen wir ein fast schwarzes Bild. Plötzlich bewegt sich ein Licht durchs Dunkel, und man bekommt den Eindruck, in einem Lager zu sein. Was ist das?

Anfangs spielte die afrikanische Frage keine Rolle für den Film. Aber mit der Zeit bin ich zu dem Schluss gekommen, dass es nötig ist, mit ehemaligen afrikanischen Gefangenen zu sprechen, weil die Foltermethoden, denen sie ausgesetzt waren, sehr speziell waren. Das stellte mich allerdings vor ein Problem: Es gibt keine Erkennungsfotos von ihnen. Sie wurden alle vernichtet. Da habe ich mich entschieden, die Abwesenheit von Bildern und damit das Nachdenken über die Funktion von Archiven in den Film einzubinden. Im Militärarchiv gab es ein Bild, das ich bei den Vorbereitungen für Stillleben entdeckt und nicht vergessen hatte. Es ist ein Überwachungsbild, das die portugiesischen Truppen während des Kolonialkriegs gemacht haben. Sie schwenken mit einem Suchscheinwerfer über das Gelände, in dem sie den Feind vermuten, und filmen von der Gegenseite, wie der Scheinwerfer das Gelände absucht. Das sind keine Bilder von irgendwelchen Landschaften, die ich zufällig besonders interessant fand, sondern sie stammen aus dem direkten Kontext. Das ist für mich fundamental: Es darf keine unbegründeten Bilder geben.

Wir sprechen hier also nicht von einer Fotografie.

Genau. Es ist das einzige Stück Archivfilm, das ich verwendet habe, allerdings sehr verlangsamt. Im Original dauert es nur ein paar Sekunden.

Einer der beiden ehemaligen afrikanischen Gefangenen erzählt, dass die PIDE ihn dazu gezwungen hat zu behaupten, er sei in der UdSSR als Sabotagespezialist ausgebildet worden. Aber wir erfahren nicht, was die Gefangenen der PIDE wirklich gemacht haben. Nur in einigen Fällen wird deutlich, dass sie Mitglieder der Kommunistischen Partei im Untergrund gewesen sind.

Es gibt nach wie vor sehr wenige Bücher und damit sehr wenige Informationen über die PIDE. Im Film habe ich regelrecht einen Schnitt gemacht und mich auf das Geschehen im Inneren des Gefängnisses konzentriert. Was zuvor passierte, spielt hier keine Rolle. Ich wollte mich mit der Beziehung zwischen Gefangenen und PIDE-Leuten innerhalb der Gefängnismauern befassen; mit den Anschlägen, die die PIDE auf den Körper und den Geist der Gefangenen verübte. Was bedeutet es, in einem repressiven System zu leben? Die Protagonisten werden erst im Abspann namentlich genannt, denn ich wollte keinen Film über jede dieser Personen im Speziellen machen. Stattdessen versuche ich, durch sie eine sehr viel umfassendere Realität zu vermitteln, die die Erfahrungen des Einzelnen übersteigt. Wenn ich damit anfangen würde, jede persönliche Geschichte aufzurollen – warum sie verhaftet wurden, was die Motive waren – würde ich den Rahmen des Films sprengen.

Persönlich war ich überrascht von der Anzahl der Frauen unter den politischen Gefangenen in Ihrem Film. Ist das repräsentativ?

Die Frauen spielten eine große Rolle im Widerstand gegen die Diktatur. Wenn die Frauen sich nicht um die geheimen Unterschlüpfe gekümmert, sie verteidigt hätten, dann wäre ein großer Teil des Widerstands im Untergrund nicht möglich gewesen. Aber in den Begriffen des politischen Protagonismus existiert diese Art von Arbeit nicht. Sie ist unsichtbar.

Es scheint mir, dass es spezielle Foltermethoden für Frauen gegeben hat, die mehr auf Entwürdigung als auf physischer Gewalt, mehr auf der Zerstörung von zwischenmenschlichen Beziehungen als auf der Zerstörung des Körpers basierten. Stimmt das?

Ja, es gab spezielle Foltermethoden für Frauen. Und sie wurden natürlich mit ihren Kindern erpresst. Der Grad der physischen Gewalt gegen sie hing aber von der Klassenzugehörigkeit ab: Die Bäuerinnen und Arbeiterinnen wurden sehr viel härter angegangen.

Glauben Sie, der Estado Novo hatte Angst vor der Macht der Frauen?

Einerseits förderte der Estado Novo die Familie, die Frau am Herd, aber das war nur für eine bestimmte Klasse gedacht und im Grunde reine Propaganda. Die Arbeiterinnen und die Bäuerinnen arbeiteten natürlich alle in den Fabriken und auf den Feldern. Das ist alles sehr widersprüchlich. Das Heiratsverbot für Krankenschwestern zum Beispiel, eine besondere Maßnahme gegen Frauen, ist bis heute einmalig im Panorama der weltweiten Diktaturen.

War es das erste Mal, dass diese ehemaligen Gefangenen über ihre Erfahrungen gesprochen haben?

Das ist unterschiedlich. Es gibt Personen, die schon oft über sie gesprochen haben, andere, die das erste Mal über sie sprechen und wieder andere, die schon über sie gesprochen haben, aber das erste Mal Sachen erzählen, die sie noch niemandem erzählt haben.

Einige der Befragten sagen wörtlich, dass sie, nachdem sie freigelassen worden sind, genau dieselbe Situation in der Gesellschaft außerhalb der Gefängnismauern wieder gefunden hätten: Abgestumpftheit, Heuchelei, Angst. Ist es eine Möglichkeit, die generelle Atmosphäre des Landes unter der Diktatur zu beschreiben, indem man vom Leben der politischen Gefangenen und vom Verhalten der Polizei innerhalb der Mauern berichtet?

Als ich mit den Leuten gesprochen habe, fiel mir sofort auf, dass die Geschichten über die Folter mit Abstand die stärksten waren. Also stellte ich sie ins Zentrum des Films. Dahinter steckt allerdings ein anderes Thema, das des repressiven Systems; es geht darum zu zeigen, wie man nicht nur die Gefangenen, sondern eine ganze Gesellschaft beherrschen kann. In Stillleben ist die zentrale Figur der Diktator Salazar. Alles dreht sich um ihn. In 48 dagegen wird er nur einmal erwähnt. Hier begegnen wir dem sichtbarsten Teil des repressiven Systems, der politischen Polizei. Bei der narrativen Struktur habe ich dann mit Leitmotiven wie «Macht», «Identität» oder «Maske» gearbeitet. Ein weiterer Aspekt ergab sich beim Vergleich der einzelnen Aussagen: der des Erkennens. Ein fotografisches Bild wirft immer die Frage nach Indexikalität und Ikonizität auf. Normalerweise steht das Bild für die Person. Besonders das Erkennungsfoto basiert auf der Idee der maximalen anatomischen Ähnlichkeit. Aber oft erkennen sich die Gefangenen selbst nicht auf ihnen. Oder ihre Angehörigen erkennen sie nicht. Es gibt auch den Fall des gefolterten Gefangenen, der sich nicht im Spiegel erkennt. Und dann sind da noch die Versuche, sich unkenntlich zu machen, und zwar mit realen Maskeraden, aber auch mit metaphorischen, die sich auf die ganze Gesellschaft beziehen. All das sind strukturierende Aspekte des Films.

Stillleben war eine französisch-portugiesische Koproduktion, aber 48 wurde ohne französische Unterstützung hergestellt. Können Sie etwas zum Produktionshintergrund Ihrer Filme sagen? Welche Rolle spielt die Familie, wenn man bedenkt, dass sich Ihr Mann um die Produktion und Ihr Bruder um den Ton kümmert?

Wenn ich diese Interviews mache, berühre ich oft sehr heikle Angelegenheiten. Gibt es mal eine Sache, die man mir erzählt, später aber doch lieber nicht verwendet sehen will, dann lasse ich sie weg. Bei Strafprozess hatte ich eine solche Situation. Das Problem war, dass das Material am Ende nicht bei mir blieb, sondern beim Produzenten, außerhalb meiner Kontrolle. Unter moralischen Gesichtspunkten war das für mich sehr unangenehm. Unsere Produktionsfirma Kintop, die wir nach Strafprozess gegründet haben, ist auch eine Möglichkeit zu garantieren, dass das Material bei uns und in Sicherheit bleibt. Für 48 haben wir nur das ICA [Instituto do Cinema e do Audiovisual] um Unterstützung gebeten, obwohl das wenig Geld ist verglichen mit dem Arbeitsaufwand – schon allein der Schnitt hat zehn Monate gedauert. Es war uns aber von Anfang an klar, dass es unmöglich sein würde, diese Idee irgendjemandem zu verkaufen: unbewegte Fotografien, sechs Minuten schwarzes Bild usw. Wir haben also sofort beschlossen, dass wir alles bei uns zu Hause machen würden, und zwar genau nach unseren Vorstellungen. Ohne Zugeständnisse. Was für mich zählt, ist die Tatsache, dass wir unser Einkommen nicht aus den Erlösen der Filme bestreiten. Ich gebe Unterricht an der Fakultät der Schönen Künste, dort verdiene ich mein Geld. Außerdem sitze ich an meiner Doktorarbeit, die mit der Filmpraxis Hand in Hand geht.

Haben Sie den Eindruck, dass Portugal für Ihre Filme bereit ist?

Der Fall von 48 ist doch sehr seltsam. In Frankreich kam der Film wirklich gut an und wurde schon achtmal gezeigt, hier in Portugal dagegen zwei Mal in acht Monaten. Beim Festival DocLisboa war er zu sehen, aber niemand hat über ihn gesprochen. Die erste Kritik schrieb Amir Labaki, für eine brasilianische Zeitung. 48 wurde in São Paulo gezeigt und in Rio. Die Diskussionen mit dem Publikum waren äußerst anregend. Es gab Interviews, Kritiken, die Leute schrieben mir E-Mails. Das hat alles überhaupt nichts mit dem zu tun, was hier in Portugal passiert. Ich wundere mich wirklich, denn es handelt sich doch um einen Film, der ein Thema aufbringt, das es verdient, diskutiert zu werden. Nicht diskutieren zu wollen ist wohl eine portugiesische Eigenart, die wir uns in den 48 Jahren Diktatur angewöhnt haben.

Das Gespräch wurde am 2. Mai 2010 am Strand von São João de Caparica in der Nähe von Lissabon geführt. Interview und Übersetzung: Chris Wahl