tiff 2014

14. September 2014

TIFF 2014 22 Filme beim Toronto International Film Festival

Von Bert Rebhandl

P'tit Quinquin von Bruno Dumont

Das Prinzip Dorfidiot, verallgemeinert auf eine ganze Landschaft in Nordfrankreich, und auf vier Folgen einer Serie, die in Summe einen Film von 200 Minuten ergeben. In einem Bunker wird eine Kuh gefunden, in der Kuh eine Leiche, und in der Leiche der Teufel höchstpersönlich. So sieht das jedenfalls der zuständige Kommissar van der Weyden (ein Bewunderer von Rubens), der mit einer ständig ins Groteske entgleisenden Mimik den Geschehnissen hinterherfährt; sein Fahrer, ein «sans-dents» im öffentlichen Dienst, ist auch keine Leuchte. Dumont arbeitet sich an Sch'tis-Klischees und aktuellen Geschehnissen ab, sein privilegierter Zeuge ist ein Junge, mit dem ein normaler Whodunit nicht zu haben ist: eben der «kleine Quinquin».

 

Mula sa kung ano ang noon (From What is Before) von Lav Diaz

Die Evolution eines philippinischen Barrios in den Nihilismus der Diktatur unter Marcos. Lav Diaz deklariert den Film als «beruhend auf Erinnerungen», es handelt sich hier wohl um das Mindanao-Projekt, von dem er schon lange gesprochen hatte. Es beginnt mit einer Heilungszeremonie, und endet mit zwei Männern in einem Reisfeld. Zwei Hinterbliebene einer sozialen und spirituellen Ordnung, die von einer Händlerin zersetzt wird. Ein von der Brandung umtoster Felsen dient als Ankerpunkt in einer Welt, für die Lav Diaz seinen eigenen magischen Realismus entwickelt.

 

Plemya (The Tribe) von Miroslav Slaboshpitsky

Ein junger Mann kommt in ein Heim für taubstumme Menschen in der Ukraine und wird dort sofort in ein soziales System der Gewalt und der (sexuellen) Ausbeutung integriert, in dessen Zentrum zwei junge Frauen stehen, die nachts mit einem Kleintransporter zu LKW-Fahrern gebracht werden. Der ganze Film enthält keinen gesprochenen Dialog, alles, selbst die größte Wut, ist Gebärdensprache. So wird alles auf eine prekäre Weise zu einer Choreographie, was eine Weile außergewöhnlich spannend wirkt, doch in einer unfassbaren Abtreibungsszene kippt das Konzept, und ein unerträgliches Ende hätte ich dann schon lieber nicht mehr gesehen.

 

Theeb von Naji Abu Nowar

Das «eiserne Maultier» (die osmanische Entsprechung zum «Iron Horse») ist gerade erst frisch durch die Wüstengegend verlegt worden, in der diese Geschichte von einem Beduinenjungen spielt, der ein großes Abenteuer erlebt. Sein Bruder soll einen Engländer zur Bahn bringen, unterwegs wird die Gruppe überfallen. Theeb bleibt mit einem schwarz gekleideten, verwundeten Räuber zurück. Diesen ganz auf elementare Erfahrungen reduzierten Plot sehen wir eingebettet in beeindruckende Wüstenbilder (Kamera: Wolfgang Thaler!) in einem Musterbeispiel für neueren Globalarthouse.

 

Leviathan von Andrej Zyagintsev

Das rechtlose Russland in einer grimmigen Erzählung aus dem hohen Norden. Kolya, dessen Anwesen von einem lokalen Machthaber enteignet wird (die Verlesung des Urteils bei Gericht ist ein Höhepunkt des Films), ruft einen Freund aus Moskau zu Hilfe. Der Freund ist Jurist und behauptet, etwas «in der Hand» zu haben gegen den Allmächtigen. Zyagintsev erzählt realistisch, figurenpsychologisch, kolportagehaft, gelegentlich dient ihm das besondere Licht in der Region zur Überhöhung eines schicksalhaft wirkenden Geschehens: Der Leviathan ist hier selbst noch Behemoth, Wodka ist das Schmiermittel, das den Koloss am Wanken erhält.

 

Phoenix von Christian Petzold

Nelly Lenz, eine Frau, die ohne Gesicht aus den Lagern zurückgekehrt ist, sucht im Oktober 1945 in Berlin nach ihrem Johnny, dem Mann, der sie bis 1944 geschützt und dann möglicherweise doch noch verraten hat. Mit dem neuen Gesicht, das ihr ein Chirurg verpasst, sieht Nelly sich selbst gerade so ähnlich, dass sie nicht als dieselbe erkannt werden kann, die sie ohnehin nicht mehr ist, nachdem sie ganz knapp dem Tod entgangen ist. Nur sie selbst glaubt noch die zu sein, die sie war (übrigens auch: «keine Jüdin»). Die Unfähigkeit, zu trauern, trifft in Phoenix auf die Unmöglichkeit, sich selbst als Opfer zu begreifen. Für mich der bisher beste Film von Christian Petzold (und Harun Farocki), leider auch der letzte in dieser Konstellation.

 

Une nouvelle amie von Francois Ozon

Eher leichtgewichtiger Versuch über bisher eher selten thematisierte Facetten homosexuellen Begehrens: Claire und Laura sind beste Freundinnen, für Claire, die den Film erzählt, ist Laura eindeutig sogar mehr. Doch beide heiraten Männer, dann stirbt Laura auch noch jung, und hinterlässt David samt kleiner Tochter. Der bei Audiard dezidiert virile Romain Duris überrascht hier zumindest ein paar Szenen lang in Frauenkleidern, dann dauert es aber noch sehr lange, bis (lose auf Grundlage eines Thrillers von Ruth Rendell) heraußen ist, wer hier mit wem in welcher Genderrolle am besten zusammenpasst.

 

Obra von Gregorio Graziosi

Visuell ist diese Geschichte eines brasilianischen Architekten, der in Sao Paolo eine Baustelle betreut, auf der ein vergessener Friedhof entdeckt wird, ziemlich beeindruckend. Doch bringt Graziosi die überdeutliche Zeichenhaftigkeit nicht so richtig ins Lot mit einer stark elliptischen Erzählung. Würde ich mir gern noch einmal ansehen.

 

Letters to Max von Eric Baudelaire

Großartiger Dokumentarfilm über ein Land, das es nur für Russland (und ein paar Vasallen) gibt: Abchasien, entstanden aus einem Separationskrieg mit Georgien. Eric Baudelaire wählt eine eigenwillige Dramaturgie, denn er schreibt dauernd Briefe an einen Freund, der zwischendurch sogar Außenminister von Abchasien ist, und der mit seiner starken Stimme bereitwillig Auskunft gibt. Die Bilder, die dazu zu sehen sind, hat Baudelaire, der als Absender der Briefe eigentlich für den Film in Frankreich ist, selber gedreht, bei Aufenthalten in den letzten Jahren. Das ist konzeptuell vielleicht um eine Ecke zu viel gedacht, ergibt in der Kombination großartiger (und großartig beiläufiger) Aufnahmen mit einer tollen Figur einen ganz besonderen Film, ein wenig aus dem Geiste Chris Markers.

 

Hari ng Tondo (Where I am King) von Carlos Siguion-Reyna

Ein Film, wie ich ihn wohl nur in Toronto zu sehen bekommen konnte, ein stärker trittsicheres Festival hätte diese hart an die Seifenoper grenzende Geschichte kaum gezeigt: Nachdem er für mehr oder weniger bankrott erklärt wird, entschließt sich ein Patriarch, alle Besitztümer abzustoßen bis auf ein Quartier in dem schon von Lino Brocka (Insiang, 1978) als zentralmythologisch charakterisierten Viertel Tondo. Dorthin geht er zurück, mit zwei Enkelkindern im Schlepptau. Zurück zu den Wurzeln einer vitalen Community, das wird hier mit vielerlei Gesang und Überschwang zelebriert.

 

Ich seh, ich seh von Severin Fiala und Veronika Franz

Die Pressevorführung war ganz schön voll, aus Venedig brachte dieser österreichische Schocker ein gerüttelt Maß an Anticipation mit, und das aus guten Gründen: Ich seh, ich seh (unwillkürlich ergänzen wir, die wir mit der deutschen Sprache groß geworden sind: was du nicht siehst, und schon sind wir beim sechsten und weiteren Sinnen) entfaltet zwischen einer durch einen Autounfall entstellten (anfangs also bandagierten) Mutter und ihren beiden Söhnen ein schlüssig verlaufendes, am Ende ziemlich schockierendes Machtspiel um die Frage: Wer ist hier nicht ganz bei sich? Ich mochte am meisten, wie genau Franz und Fiala mit den österreichischen Spezifika umgehen, und wie sehr sie einfache Gelegenheiten des Lebens auf dem Land zu großem Effekt nützen (was ein Mähdrescher so an bedrohlicher Stimmung machen kann). Ein paar Minuten mit Susanne Wuest im Wald zählen zu den für mich größten Momenten, an die ich mich im Kino überhaupt erinnern kann.

 

Pasolini von Abel Ferrara

Die letzten Tage von Pier Paolo Pasolini bilden für Abel Ferrara einen seltsamen Fiebertraum von einem nicht realisierten Film (auf Grundlage des posthum veröffentlichten Romans Petrolio), von dem hier ein paar denkbare Szenen zu exquisiter Musik heraufbeschworen werden. Dazu gibt Willem Dafoe ein paar Interviews, und am Ende zeigt sich, dass Pino Pelosi nicht der Mörder von Pasolini war. Die Gestalten, die in Ostia aus dem Dunkel auftauchen, wirken wie ein Zugeständnis an Verschwörungstheorien, mit denen Ferrara sich nicht befassen wollte, weil sie die Aura seiner Figur beeinträchtigt hätten. Unnötiger Film.

 

Gyeongju von Lu Zhang

Einer meiner Lieblingsfilme beim TIFF 2014, und beinahe hätte ich ihn gar nicht gesehen, erst im letzten Moment entschied ich mich gegen Chris Rock und für diese koreanischen Dreiändereck-Geschichte: Ein immer noch junger Mann, der als Professor für politische Wissenschaften in Beijing arbeitet, kehrt wegen eines Todesfalls nach Korea zurück und entschließt sich, ein Teehaus aufzusuchen, in dem er vor sieben Jahren ein «obszönes Wandbild» gesehen hatte, das ihm nicht aus dem Kopf geht. Korea ist hier ein seltsam stilles Land, Komik und tragisches Pathos der Geschichte liegen dicht beisammen, und alles wird von einer starken Erotik der einfachen Dinge geprägt.

 

Songs from the North von Soon-Mi Yoo

Ist Nord-Korea vielleicht das einsamste Land auf der Erde? Das fragt Soon-Mi Yoo einmal in diesem sehr guten Dokumentarfilm, und sie bekräftigt ihre eigene Antwort mit dem, was sie tut: Die Einsamkeit Nord-Koreas liegt darin, dass dessen Bevölkerung zu einer Staatsideologie verurteilt wird, die sich in Erzählungen und Liedern, in Massenchoreographien und einem Führerkult äußern, die alle außerhalb des Landes nicht anschlussfähig sind. Soon-Mi Yoo kombiniert bemerkenswerte Archivfunde mit eigenen Aufnahmen, die sie zum Teil auch dann drehte, wenn ihre Begleitpersonen eigentlich das Filmen verboten hatten. Ein Samisdat-Film, so, als hätte jemand früher einmal in der BRD einen Film gemacht, der die DDR von innen zu verstehen versucht hätte.

 

Eden von Mia Hansen-Love

Der einzige Film, für den ich mich anstellen musste, brachte eine Enttäuschung. Im Grunde ist diese sich über zwanzig erzählte Jahre erstreckende Geschichte eines DJs gerade einmal für einen dürftien Running Gag gut, in dem es um zwei Musiker namens Thomas und Guy-Man geht, die sich immer nur mit Vornamen auf die Gästeliste setzen lassen, und denen deswegen zweimal der Einlass verweigert wird. Sie sind natürlich Daft Punk, und das Duo Cheers dient Hansen-Love als fiktionales Pendant. Was sie genau erzählen wollte, bleibt unklar.

 

Foreign Body von Krzsytof Zanussi

Warum bin ich in diesem Film, in dem gar nichts stimmt, bis zum Ende sitzen geblieben? Es war wohl eine triviale Lust an Plot, die mich gerade noch so beschäftigte, wobei Zanussi bei seinem Versuch, das moderne Polen an den Idealen eines mystischen Katholizismus zu messen, wirklich aber auch gar nichts auslässt: eine mit der Gerte wedelnde Konzernführungskraft, die ihren den Rosenkranz bevorzugenden Mitarbeiter einer Intrige preisgibt, weil der von seiner ins Kloster gegangenen Angebeteten nicht lassen will! Status- und andere Symbole purzeln wild durcheinander in diesem völlig aus der Zeit gefallenen Spätling des alten europäischen Autorenkinos.

 

This is Where I Leave You von Shawn Levy

Amerikanisch-jüdisches «soul searching» anlässlich des Zusammenkommens einer Familie, die sieben Tage für den verstorbenen Vater Schiv'a sitzen soll. Jane Fonda präsidiert mit massiv aufgerüstetem Vorbau der ganzen Veranstaltung, die Gelegenheit zu allerlei Erinnerungs- und Versöhnungsarbeit gibt. Tina Fey ist als Integrationsfigur einer zentrifugalen Familie ziemlich fehlbesetzt.

 

Im Labyrinth des Schweigens von Giulio Ricciarell

Der Schattenfilm zu Phoenix, nicht nur, weil Fritz Bauer, dessen Gedächtnis Petzold seinen Film gewidmet hat, hier von Gert Voss für unsere Gegenwart dargestellt wird. Alexander Fehling spielt einen jungen Staatsanwalt in der jungen Bundesrepublik, der von einem Journalisten auf eine Spur gebracht wird, die in die Auschwitz-Prozesse der frühen 60er Jahre führt. Ein wichtiges und auch interessantes Kapitel Zeitgeschichte, das gutes Material für ein «period piece» ergibt, mit dem Ricciarelli aber in beinahe jeder erdenklichen Hinsicht zu sehr in die Vollen geht. «Ich bin seit 20 Jahren bereit», sagt Hermann Langbein am Ende, und ich dachte: Von ihm hätte dieser Film handeln sollen, und nicht von einem blonden Jüngling, der am Ende natürlich doch noch seine Modeschöpferin bekommt, mit der eine reingewaschene Bundesrepublik sich als Idealfamilie neu gründen kann.

 

Red Rose von Sepideh Farsi

Während der Demonstrationen im Iran im Jahr 2009 flüchtet sich eine junge Frau in die Wohnung eines graubärtigen Intellektuellen. Damit beginnt eine kurze, intensive Affäre (Der letzte Tango in Teheran?) vor dem Hintergrund der politischen Euphorie, die allmählich in Ohnmacht umschlägt. Das Kammerspiel, das durch Archivbilder und Twitter-Nachrichten akzentuiert wird, dient einer Reflexion auf Lebensalter und Veränderungsbereitschaft. Der Mann erweist sich als Protagonist eines früheren Versuchs, eine bessere Gesellschaft zu schaffen.

 

Good Kill von Andrew Niccol

Ethan Hawke spielt einen Piloten, der nicht mehr fliegen darf, sondern mit der Fernbedienung auf Terroristen in Waziristan oder im Jemen schießen muss: ein Drohnenkrieger, der an seiner Mission allmählich irre wird. Andrew Niccol kehrt mit seinem in Nevada gedrehten Film zur Ästhetik von Gattaca zurück: starke Farben, starke Stilisierungen, starke Kontraste, hier ergänzt durch Stimmen (die «Chair Force» handelt auf Anleitung der zugeschalteten CIA) und Screens. Am Ende wird alles erzählerisch arg eindimensional aufgelöst, davor ist das ein achtbarer Versuch, unabhängiges amerikanisches Kino zu einem brisanten Thema zu machen: Niccol war bei Good Kill selbst der Produzent.

 

El elefante desaparecido (The Vanishing Elephant) von Javier Fuentes-León

Ein metafiktionaler Thriller aus Peru, in dem ein erfolgreicher Autor von Kriminalromanen sich unvermutet auf der anderen Seite findet: es sieht alles danach aus, als wäre er derjenige, von dem erzählt wird, oder der zumindest auf die Spuren einer Erzählung gesetzt wird, deren Protagonist er selbst ist. In einer Strandszene in einer erhaben einsamen Gegend Perus taucht schließlich die Titelfigur auf, eine Felsformation, die als Elefant durchgehen kann, sofern man bereit ist, sich auf ein Kippbild einzulassen, von dem aus sich in diesem Film schließlich alles so und auch anders sehen lässt – sofern ich richtig, also ausreichend doppelt, gesehen habe.

 

Délibáb (Mirage) von Szabolcs Hajdu

Konnte ich in Toronto nicht sehen, weil mich der Regisseur aber seit Bibliothèque Pascal sehr interessiert, rief ich heute morgen den Vimeo-Link auf, den mir die Pressebetreuerin gegeben hatte. Isaach be Bankolé, Arthouse-Nomade vom Dienst, taucht hier in einer Puszta auf, die ein wenig nach Peckinpahs wildem Westen aussieht. Francois aus der Elfenbeinküste kommt mit einem Fußball in der Reisetasche an, wird dann aber von einer rumänischen Bande zu Fronarbeiten auf einem Hof gezwungen, der eigentlich einer jungen Frau mit einem verwachsenen Kind gehört. Hajdu mischt Anspielungen auf den Rassismus in Osteuropa mit Genre-Versatzstücken (allerdings hat sein Fremder ohne Namen einen Vornamen und sogar einen Pass) und Reminiszenzen an den Allegorismus Marke Jancsó. Ich werde darauf zurückkommen.